Vortex: Roman (German Edition)
noch dabehalten könnte, und schon aus Angst, mein Puls oder meine hormonale Chemie könne dem Netzwerk Hinweise auf meine Verfassung geben, beschloss ich, für Ablenkung zu sorgen: Ich verließ die Wohnung und fuhr zur nächstbesten öffentlichen Terrasse, die den Marktbereich überblickte, um mir die Lichterparade des Ido-Festes anzusehen.
Vox-Core war eine Stadt der Riten und Feste. Als Treya hatte ich das geliebt. Als Allison war ich überrascht, dass ein so »eng geschnürtes« Gemeinwesen wie Vox so viel Freude am Feiern fand. Aber Vox war eine limbische Demokratie; nichts konnten wir besser als öffentliche Emotionen teilen.
Vox war auf einem Planeten namens Ester gegründet worden, fünf Welten von der alten Erde entfernt. Wir hatten das esterische Jahr von 723 Tagen beibehalten, ebenso wie die esterische Einteilung des Tages in vierundzwanzig Stunden (eine Gewohnheit so alt wie die Erde, obwohl Esters Tage und Stunden um eine Winzigkeit länger waren). Auf dem isotropen Meer, das – bis auf den Mars – alle Ringwelten miteinander verband, hatte Vox also fünf Planeten überquert. Unser Kalender kannte viele Feiertage: Mal war es die Gründung von Vox, mal eine bestimmte Prophezeiung, mal der Jahrestag einer historischen Schlacht. Das Ido-Fest erinnerte an unseren Sieg über die bionormativen Streitkräfte am Terivine-Bogen; das war die Schlacht, in der wir die Gefangenen gemacht hatten, die den Kern der späteren Farmerkaste bilden sollten.
Es war ein martialisches Fest mit Feuerwerk, Trommeln und Fackelparaden. In den allermeisten Jahren war die Feier von Frohsinn und Freigebigkeit geprägt gewesen, aber diesmal waren die Festessen rationiert und die Festivitäten hatten einen Anstrich von Hysterie. Jeder wusste, das er vielleicht das letzte Ido-Fest vor der »Erneuerung der Welt« erlebte.
Ich hätte unmöglich teilnehmen können, selbst wenn ich gewollt hätte – die Videoeinspielungen hatten einen bunten Hund aus mir gemacht. Ich verriet meine Vergangenheit, wollte nicht recht in die Geschichte der Aufgenommenen passen und erschien – weil ich nicht vernetzt war – jedem von vorneherein fragwürdig und verdächtig. Nicht dass mir von der Menge Gefahr gedroht hätte – noch nicht jedenfalls –, aber wenn ich Anschluss gesucht hätte, hätten sie mich stehen lassen und wie Luft behandelt. Also suchte ich mir ein bewaldetes Plätzchen, wo ich nicht auffiel und einen guten Blick auf das festliche Treiben hatte. Als die Nacht anbrach, füllte sich gut achthundert Meter hangabwärts der Marktplatz mit Menschen. Sie hatten Leuchtstäbe verschiedener Größe und Farbe dabei und sammelten sich hinter einem Anführer, der sie durch das Gewirr aus Marktständen führte. Im Dunkel der Nacht und aus dieser Entfernung war der Effekt spektakulär: eine glühende, bunte Schlange, die sich wand und Schlingen bildete und sich im Rhythmus der Trommeln wiegte.
Eine merkwürdige Nostalgie beschlich mich. Ich war nicht mehr Treya und wollte auch nicht mehr Treya sein, doch ich vermisste die Freude, die Treya bei solchen Anlässen empfunden hatte. Meine Freude. Sie, ich, mein, ihr … Täuschend einfache Worte, die für mich schwer zu definieren waren.
Selbst ohne Netzknoten wusste ich, wann wieder eine Woge der Erregung durch die Menge lief. Ich musste durch eine Lücke zwischen den Baumwipfeln auf einen riesigen Bildschirm sehen, um zu erkennen, was passiert war. Der Schirm zeigte eine Gruppe von Schlangentänzern, die ein Banner entrollte, und auf dem Banner war das buchstäblich glühende Porträt von Isaac Dvali zu sehen. Jubel und Applaus brandeten zu mir herauf; es klang wie prasselnder Regen.
Doch eigentlich galt der Jubel nicht Isaac. Er galt dem, wofür er stand: der Erfüllung der Prophezeiungen, dem bevorstehenden Ende aller Tage. Es war die Stimme des abdankenden Coryphaeus, der sich selbst huldigte durch Vox, seinen Leib.
Woran erkennt man kollektiven Wahnsinn? Für mich waren es solche Anzeichen: ansteckende Irrationalitäten, freundliche Gleichgültigkeit gegenüber realen Problemen (etwa die Knappheit an Getreide und tierischem Protein), der allgemeine Wirbel um die Hypothetischen nach dem Massaker in der antarktischen Wüste. Überall konnte man jetzt Bilder von diesen gigantischen Maschinen sehen, und mehr und mehr setzte sich die Überzeugung durch, dass die getöteten Soldaten und Zivilisten der Vorausabteilung nicht wirklich tot, sondern aufgenommen seien.
Wenn die Maschinen zu guter Letzt
Weitere Kostenlose Bücher