Vorübergehend tot
laufen lassen. Zum Duschen war ich zu müde. Ich putzte mir aber immerhin noch die Zähne, wusch mir die Schminke aus dem Gesicht, klatschte mir ein wenig Feuchtigkeitscreme auf die Wangen und löste das Gummiband aus den Haaren.
Dann zog ich mir mein liebstes Micky-Maus-Schlafshirt an, wie ich es immer tue, eins, das mir fast bis zu den Knien reicht, und genoß die Stille in meinem Zimmer. In den frühen Morgenstunden haben fast alle Menschen ihre Gedanken abgeschaltet, niemand denkt, die Vibrationen sind fort, kein Eindringen muß abgewehrt werden. Die Situation war so friedlich, daß mir gerade noch Zeit blieb, mich an die dunklen Augen des Vampirs zu erinnern, ehe ich tief und erschöpft einschlief.
* * *
Am nächsten Tag lag ich zur Mittagszeit in meinem Alu-Klappsessel im Vordergarten und wurde von Sekunde zu Sekunde brauner. Ich trug meinen trägerlosen weißen Lieblingsbikini, und der saß loser als im Sommer zuvor, was mir ungeheure Freude bereitete.
Ich hörte ein Auto die Auffahrt hochkommen, und bald darauf kam Jasons schwarzer Pick-up mit den rosa und aquamarinblauen Flammen darauf nur einen halben Meter vor meinen Füßen zum Stehen.
Mein Bruder Jason kletterte aus dem Führerhaus - habe ich die riesigen Räder des Pick-up bereits erwähnt? - und stakste mit großen Schritten auf mich zu. Er trug, was er bei der Arbeit immer trägt: Jeanshemd und Jeans. Am Gürtel baumelte ein offenes Messer in einem Lederhalfter, wie bei den meisten Männern in unserer Gegend, die im Straßenbau tätig sind. Ich sah allein an Jasons Gang, daß er ziemlich sauer war.
Ich setzte mir erst einmal die Sonnenbrille auf.
„Warum zum Teufel hast du mir nicht erzählt, daß du letzte Nacht die Rattrays zusammengeschlagen hast?“ Mit diesen Worten warf sich mein Bruder in den Aluminiumstuhl, der neben meinem Sessel stand. „Wo ist Oma?“ fügte er dann hinzu, ein wenig spät, wie ich fand.
„Hängt gerade Wäsche auf“, antwortete ich. Wenn es nicht anders ging, bediente sich Oma auch des Wäschetrockners, aber viel lieber hängte sie die nassen Kleidungsstücke draußen auf der Leine in die Sonne. Selbstverständlich war Omas Wäscheleine im hinteren Garten aufgespannt, wie es sich für eine Wäscheleine gehörte. „Zu Mittag brät sie dir ein Steak“, fügte ich hinzu. „Dazu gibt es Süßkartoffeln und die grünen Bohnen, die sie letztes Jahr eingemacht hat.“ Informationen wie diese waren geeignet, Jason von seinem Zorn abzulenken, das wußte ich aus Erfahrung. Ich hoffte, Oma würde noch eine Weile hinter dem Haus zu tun haben, denn ich wollte nicht, daß sie von unserer Unterhaltung etwas mitbekam. „Sprich leise“, bat ich Jason.
„Heute morgen konnte Rene noch nicht einmal warten, bis ich bei der Arbeit war, um mir haarklein alles zu berichten. Er war gestern abend nämlich beim Wohnwagen der Rattrays, weil er ein bißchen Gras kaufen wollte, und er sagt, Denise kam da vorgefahren, als wolle sie wen umbringen. Rene sagt, um ein Haar hätte es ihn erwischt, so sauer war sie. Dann mußte Rene mit anfassen, denn allein hätte Denise Mack nicht in den Wohnwagen schaffen können, und letztlich mußte sie ihn dann nach Monroe ins Krankenhaus bringen.“ Jason starrte mich vorwurfsvoll an.
„Hat Rene dir auch erzählt, daß Mack mit einem Messer auf mich losgegangen ist?“ fragte ich, denn ich war zu der Erkenntnis gelangt, daß sich die ganze Debatte mit einem direkten Gegenangriff am besten beenden ließe. Ich sah Jason an, daß ein Gutteil seiner Empörung aus der Tatsache herrührte, daß er die ganze Geschichte von jemand anderem und nicht von mir erfahren hatte.
„Wenn Denise Rene das erzählt hat, dann hat der es mir gegenüber nicht erwähnt“, meinte Jason langsam und nachdenklich, und ich konnte beobachten, wie sein attraktives Gesicht vor Wut immer dunkler wurde. „Mit einem Messer ist er auf dich losgegangen?“
„Da mußte ich mich doch verteidigen!“ sagte ich, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt. „Dann hat er deine Kette geklaut.“ Was ja irgendwie stimmte, wenn ich auch die Tatsachen etwas verdreht hatte.
„Ich bin ja auch wieder zurückgekommen, um dir alles zu erzählen“, fuhr ich fort. „Aber da warst du schon mit DeeAnne verschwunden, und mir war ja nichts passiert. Da schien es mir nicht der Mühe wert, dir hinterherzulaufen und dich aufzustöbern. Ich wußte, wenn ich dir das mit dem Messer erzähle, fühlst du dich verpflichtet, Mack aufs Dach zu
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