Vorübergehend tot
wollte ich mich auf die Frau an Bills Seite stürzen und sie windelweich prügeln - andererseits war ich so erzogen, daß Schlägereien in öffentlichen Lokalen für mich nicht in Frage kamen. (Bill wollte ich auch windelweich schlagen, aber da hätte ich genauso gut und mit dem gleichen Ergebnis mit dem Kopf gegen die Wand rennen können.) Dann wäre ich noch gern einfach in Tränen ausgebrochen, denn man hatte meine Gefühle unschön verletzt - aber Heulen war ein Zeichen von Schwäche. Sowieso war es am sichersten, gar keine Gefühle zu zeigen, denn Jason war drauf und dran, sich auf Bill zu stürzen, und die kleinste Ermutigung meinerseits hätte ihn wie eine Kanonenkugel losgehen lassen.
Mir waren das einfach zu viele Konflikte auf einmal - und das, wo ich noch dazu viel zu viel Alkohol intus hatte.
Ich ließ mir all diese Optionen durch den Kopf gehen und durchdachte sie, so gut es ging. Währenddessen kam Bill, die junge Frau im Schlepptau, zwischen den Tischreihen hindurch immer näher. Ich mußte feststellen, daß es im Lokal ungeheuer still geworden war. Statt andere zu beobachten, wurde ich nun selbst beobachtet.
Da fühlte ich, wie mir die Tränen in die Augen schossen, sich meine Hände zu Fäusten ballten, und dachte: „Wunderbar! Da hast du dir ja von allen Möglichkeiten die beiden schlechtesten gewählt.“
„Sookie“, grüßte Bill. „Das hier hat Eric mir auf die Türschwelle gelegt.“
Ich verstand wirklich nicht, was er damit meinte.
„Ja und?“ fragte ich wütend, wobei ich dem Mädchen in die Augen sah; sie waren groß, schwarz und glitzerten erregt. Ich hielt die eigenen Augen weit aufgerissen, denn wenn ich blinzelte, würden mir sofort die Tränen über die Wangen kullern.
„Als Belohnung“, erklärte Bill, und ich konnte seiner Stimme nicht anhören, wie er sich bei der ganzen Sache fühlte.
„Er wollte dir einen ausgeben?“ fragte ich und mochte kaum glauben, wie giftig meine Stimme klang.
Jason legte mir die Hand auf die Schulter. „Ruhig Blut, Mädchen“, sagte er, wobei seine Stimme genauso leise und fies klang wie meine. „Er ist es nicht wert.“
Noch wußte ich nicht, was Bill nicht wert war, aber ich stand kurz davor, es herauszufinden. Nach all den Jahren, in denen ich mein Leben immer so vollständig im Griff hatte haben müssen, war es ein fast erregendes Gefühl, nicht zu wissen, was ich als nächstes tun würde.
Bill beobachtete mich aufmerksam und angespannt. Er wirkte im grellen Neonlicht des Tresens unglaublich weiß. Er hatte nicht von der Frau getrunken, und seine Fangzähne waren eingefahren.
„Komm, wir müssen reden“, sagte er.
„Mit ihr?“ Das klang fast wie ein Knurren.
„Nein“, erwiderte Bill. „Mit mir mußt du reden. Sie muß ich zurückschicken.“
Bill klang ruhig und distanziert, was mich beeindruckte. Also folgte ich meinem Freund nach draußen, wobei ich den Kopf hoch erhoben hielt und niemandem direkt in die Augen sah. Bill hielt nach wie vor den Arm der Kleinen umklammert, und sie trippelte praktisch auf Zehenspitzen neben ihm her, um mit ihm mithalten zu können. Erst als ich mich - kurz bevor wir auf den Parkplatz traten - umdrehte und Jason direkt hinter mir sah, bekam ich mit, daß mein Bruder uns gefolgt war. Auch hier draußen herrschte ein reges Kommen und Gehen, aber es war doch ein wenig besser als drinnen im überfüllten Lokal.
„Hi!“ meldete sich nun das Mädchen in munterem Plauderton. „Ich bin Desiree. Ich glaube, wir kennen uns, Jason.“
„Was tust du hier, Desiree?“ fragte Jason, wobei seine Stimme ganz ruhig und gelassen klang. Man hätte fast meinen können, Jason selbst sei ebenso ruhig und gelassen.
„Eric hat mich hier rübergeschickt nach Bon Temps, als Belohnung für Bill“, erklärte Desiree geziert und warf Bill von der Seite her einen koketten Blick zu. „Der scheint allerdings nicht begeistert. Das kann ich gar nicht verstehen! Ich bin doch mehr oder weniger ein ganz besonderer Jahrgang!“
„Eric?“ fragte Jason. Die Frage war an mich gerichtet.
„Ein Vampir aus Shreveport. Ihm gehört dort ein Nachtclub, und er ist einer der Obermuftis.“
„Er hat sie einfach bei mir auf der Türschwelle abgeladen“, ergänzte Bill. „Ich hatte ihn nicht darum gebeten.“
„Was wirst du denn nun tun?“
„Ich schicke sie zurück“, wiederholte Bill. „Sookie, wir müssen miteinander reden.“
Ich holte tief Luft. Ich spürte, wie meine Fäuste sich lockerten.
„Desiree braucht
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