Vorübergehend tot
ich wahrscheinlich auch ziemlich mitgenommen aus.
„Miss Stackhouse?“ fragte der Polizist in dem ruhigen, klaren Tonfall, den viele Amtspersonen an den Tag legen, wenn sie es mit einer Krise zu tun haben. „Ich bin Andy Bellefleur.“ Bellefleurs hatte es in Bon Temps gegeben, seit es Bon Temps selbst gab, also war der Name mir vertraut, und ich geriet nicht in die Versuchung, darüber zu lachen, daß ein Mann sich als 'hübsche Blume' vorstellte. Im Gegenteil: Während ich prüfend das vor mir stehende Muskelpaket betrachtete, tat mir jeder, der geschmunzelt hatte, als Bellefleur seinen Namen nannte, von Herzen leid. Dieses Mitglied der alteingesessenen Familie war ein Jahr oder zwei vor Jason mit der Schule fertig geworden, und seine Schwester Portia hatte eine Klasse über mir die Schule besucht.
Inzwischen hatte auch der Kriminalbeamte mich richtig einordnen können. „Ihrem Bruder geht es gut?“ fragte er. Immer noch in diesem leisen, ruhigen Tonfall, aber nicht mehr ganz so unbeteiligt.
Anscheinend hatte es zwischen ihm und Jason den einen oder anderen Zusammenstoß gegeben.
„Ich sehe ihn eher selten, aber wenn ich ihn sehe, scheint es ihm gut zu gehen“, antwortete ich.
„Wie geht es Ihrer Großmutter?“
Ich lächelte. „Die verbringt den Vormittag im Garten und pflanzt Blumen.“
„Das ist ja wunderbar!“ sagte er mit einem ernsthaften Kopfschütteln, das gleichzeitig Erstaunen und Bewunderung signalisieren sollte. „Was ist mit Ihnen? Wie ich verstanden habe, arbeiten Sie für Merlotte?“
„Ja.“
„Dawn Green arbeitete ebenfalls dort?“
„Ja.“
„Wann haben Sie Dawn zum letzten Mal gesehen?“
„Vorgestern. Bei der Arbeit.“ Der Tag war noch nicht weit fortgeschritten, aber ich fühlte mich schon unendlich müde. Ohne die Füße vom Boden oder den Arm vom Steuerrad zu nehmen, lehnte ich den Kopf seitwärts gegen die Kopfstütze des Fahrersitzes.
„Haben Sie sich da miteinander unterhalten?“
Ich versuchte, mich zu erinnern. „Ich glaube nicht.“
„Waren Sie mit Miss Green befreundet?“
„Nein.“
„Warum sind Sie dann heute hier vorbeigekommen?“
Ich erklärte es ihm: daß ich bereits am Vortag hatte für Dawn einspringen müssen und daß Sam mich heute vormittag telefonisch gebeten hatte, nach ihr zu sehen.
„Hat Mr. Merlotte auch gesagt, warum er nicht selbst kommen konnte?“
„Ja. Ein Lieferwagen war eingetroffen, und Sam mußte den Jungs erklären, wohin sie die Kisten schaffen sollten.“ Meist übernahm Sam auch einen Großteil des Abladens selbst, um die ganze Sache zu beschleunigen.
„Unterhielt Mr. Merlotte Ihrer Meinung nach eine Beziehung zu Miss Green?“
„Er war ihr Chef.“
„Nein, ich meine außerhalb der Arbeit.“
„Nein.“
„Das klingt, als seien Sie sich Ihrer Sache sehr sicher.“ „Das bin ich auch.“
„Unterhalten Sie denn eine Beziehung zu Sam?“
„Nein.“
„Wie können Sie dann so sicher sein?“
Das war eine gute Frage. Weil ich von Zeit zu Zeit Gedanken gehört hatte, aus denen ich schloß, daß Sam meiner Kollegin nicht zuwider war, daß sie ihn aber nicht wirklich richtig gern hatte. Das konnte ich aber ausgerechnet einem Kriminalbeamten nun wirklich nicht auf die Nase binden - das wäre äußerst unklug gewesen.
„Sam sorgt in seiner Bar für professionelles Verhalten“, erwiderte ich statt dessen. Das klang zwar selbst in meinen eigenen Ohren nicht gerade überzeugend, war aber nichts als die reine Wahrheit.
„Wußten Sie etwas von Dawns Privatleben?“
„Nein.“
„Sie waren also nicht gerade eng miteinander befreundet?“
„Nicht gerade.“ Der Kriminalbeamte senkte den Kopf und betrachtete gedankenverloren seine Schuhe - jedenfalls schien es so. Meine Gedanken gingen ihre eigenen Wege.
„Warum? Warum waren Sie nicht befreundet?“
„Ich nehme an, es mangelte uns an Gemeinsamkeiten.“
„Inwiefern? Können Sie mir ein Beispiel geben?“
Ich seufzte und schürzte in gespielter Verzweiflung die Lippen. Dawn und ich hatten gar keine Gemeinsamkeiten gehabt; wie konnte ich ihm da ein einziges Beispiel geben?
„Also“, sagte ich dann langsam. „Dawn führte ein reges gesellschaftliches Leben und war gern mit Männern zusammen, verbrachte ihre Zeit nicht gern mit Frauen. Sie stammte aus Monroe, hatte in Bon Temps also keine Familie. Sie trank. Ich trinke nicht. Ich lese gern viel, sie las überhaupt nicht. Reicht das?“
Bellefleur warf einen prüfenden Blick auf mein Gesicht und
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