Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
kalten Boden aus und legte den abgehackten Kopf darauf. Unbeholfen steckte er die grauen Haarsträhnen zu einem Knoten zusammen und befestigte ihn mit einer Eulenfeder, dann faltete er sorgsam die Ecken des goldenen Tuches zusammen und verknotete sie fest.
Das Bündel mit dem Kopf an seine Brust gepreßt, schritt Dachsschwanz durch die Kammer.
Vergeblich versuchte er, den warmen Blutstrom zu ignorieren, der sein Kriegshemd tränkte und auf seinen muskulösen Bauch sickerte.
Ehe er den Tempel verließ, verharrte er vor einem der kunstvoll geschnitzten Ständer und nahm ein außergewöhnlich schönes Halsband aus Meeresmuscheln und Amethysten in die Hand. Er band es an seinen Gürtel und verließ den Tempel, ohne sich noch einmal umzublicken.
Dachsschwanz lehnte sich über Bord und tauchte seine Hand in den kalten Fluß. In den schattigen Nischen am Ufer schmolz das Eis nicht, silbern bewegte es sich in kleinen Klumpen auf den Wellen.
Er bespritzte sein Krötengesicht mit Wasser und wusch die Wunde an seinem Unterarm aus. Die Kälte brannte schmerzhaft wie sengendes Feuer. Wenigstens hatten seine Kopfschmerzen nachgelassen, nur die fast unerträgliche Enge in seiner Brust dauerte an. Rotluchs' Leichnam lag eingehüllt in eine prächtige rotgoldene Decke im Heck des Kanus. Sein Kopf war neben den von Jenos gebettet.
Dachsschwanz brachte es nicht fertig, seinen Bruder anzusehen. Durch die Tiefen seiner Seele hallten unausgesetzt die Worte:
»Ich hasse, was wir tun … ich hasse, was wir tun … Ich wünschte, wir könnten davonlaufen.«
Dachsschwanz trocknete seine von der Kälte gefühllosen Hände ab und blickte blinzelnd zu der vor ihnen aufragenden Klippe hinauf. Auch Heuschrecke und der kleine Flöte betrachteten den Fels aufmerksam. Flöte kniete im Heck, direkt hinter Rotluchs. Der siebzehn Sommer alte Junge blickte sich unruhig um, sein Kehlkopf hüpfte beim Schlucken. Ihm behagte die ihm zugewiesene Aufgabe ganz und gar nicht.
»Ist das die Stelle?« rief er Dachsschwanz zu.
»Ja.«
Flöte nickte hektisch. Er paddelte ein wenig zu flott, so daß Heuschrecke Mühe hatte, den Bug auf ihr Ziel am Fuß der Klippe zu richten. Dürres Gras und ein paar Feigenkakteen überwucherten die sandigen Flanken des Felsens. Rosen- und Wildkirschenbüsche reckten ihre kahlen Zweige aus Rissen und Spalten, als wollten sie nach dem unter ihnen vorbeifließenden, Leben spendenden Wasser greifen. Im Norden schwebte ein blauer Rauchschleier über den brennenden Häusern von River Mounds.
Dachsschwanz wandte sich ab und schielte auf sein von Blut getränktes Kriegshemd. Der grüne Schnabel des darauf gemalten Falken war fast eine Handbreit von einem dunkelroten Fleck verdeckt.
»Wir könnten davonlaufen …«
»Ich wünschte, du hättest recht gehabt, Rotluchs«, murmelte er leise. »Aber ich bin ein Krieger. Das Töten liegt in der Natur meiner Seele.« Stimmt das? Liegt es in deiner Natur, deine eigenen Verwandten umzubringen? Liebkosend strich er über die ebenfalls blutbesudelten Federn des Falkenbildes. Doch das so vertraute Prickeln der Macht blieb aus. Sogar sein Geisterhelfer hatte ihn verlassen.
»Wie wäre es damit, Dachsschwanz?« Heuschrecke deutete mit dem Paddel auf eine winzige Bucht, an deren felsige Ufer sich ein dürres Büschel Katzenpfötchen mit lanzettförmigen, wie geballte Fäustchen eingerollten Blättern schmiegte.
»Ja. Gut.«
Heuschrecke sprang in den Fluß und zog das Kanu an einen geeigneten Anlegeplatz. Auch Dachsschwanz stieg in das knietiefe Wasser. Gemeinsam zerrten sie das Boot auf den Sand.
»Flöt.«, befahl Dachsschwanz erschöpft von der Anstrengung, »du bleibst hier. Bewache … bewache das Kanu. Falls wir bei Sonnenuntergang noch nicht zurück sind, fahr nach Hause.«
Flöte nickte eifrig. »Gut.« Ein flüchtiges Lächeln glitt über sein Gesicht. Doch als sein Blick auf die neben ihm im Boot liegende Leiche fiel, ließ er sich gegen den Rumpf zurücksinken und blickte betreten auf seine Knie.
Dachsschwanz nahm Bogen und Köcher aus dem Boot. Er verstand Flötes Dilemma nur zu gut. Im Tod spaltete sich die Seele in zwei Teile. Der eine Teil trennte sich vom Körper und streifte über die Hügel, aß die Überreste in den Kochtöpfen oder klirrte mit Schmuck, um die Leute in Angst und Schrecken zu versetzen. Der andere Teil klammerte sich an den Körper und wartete auf ein würdiges Begräbnis, damit er sich auf die lange Reise den Dunklen Fluß hinunter zum Land der Ahnen
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