Vorzeitsaga 07 - Das Volk der Blitze
allergrößte Mühe, damit du endlich den Wunsch verspürst, in seinem Tanz aufzugehen, bevor es zu spät ist, bevor du es nur noch unter Schmerzen lernst.«
»Was hat das nun wieder zu bedeuten?«
Die Schildpattpuppe rutscht den Wedel hinunter bis zum linken gezackten Blattende, etwa eine Handbreit entfernt, und flüstert: »Hast du wirklich meinen Namen in deinen Träumen geschrien, um mir solche Fragen zu stellen?«
Ich starre ihr ins verblichene Gesicht. Ihr Mund ist nur noch ein verschmierter grauer Fleck. »Eh, nein.
Ich habe dich gerufen, weil ich wissen will, wie du ins Leben getreten bist. Muschelweiß hat gesagt, sie hat dir kein Leben eingehaucht, und wenn sie nicht -«
»Endlich eine wesentliche Frage … Hat dir Muschelweiß je erzählt, dass vier ihrer Söhne an einem Tag starben, als eine Wasserhose aus dem Himmel herabkam und ihr Kanu entzweiriss?«
Mir bleibt der Mund offen stehen. »Nein«, sage ich leise.
»Gegen Morgen schwamm sie hinaus ins warme Wasser und suchte nach ihren Leichen. Der Sturm hatte das Meer so aufgewühlt, dass sie nichts sehen konnte. Sie glitt mit den Händen über den Grund und tastete nach ihnen. Den ganzen Tag schwamm sie herum und suchte nach ihnen. Am Abend, als sie schon völlig erschöpft war, glitt ihre rechte Hand über etwas Kaltes, Glattes, und ihre Fingerspitzen ertasteten einen Mund und eine Nase. Sie musste alle Kraft zusammennehmen, um den Jungen aus dem Sand bis zur Oberfläche zu ziehen, und da presste sie ihren Mund auf seinen und versuchte, ihm wieder Leben einzuatmen. Aber es gelang ihr nicht. Und weißt du warum, Teichläufer?«
Ich ziehe die Wedelspitze, auf der sie sitzt, zu mir herunter. Die Schildpattpuppe neigt sich zu mir und starrt mir ausdruckslos ins Gesicht. »Was hat das damit zu tun, wie du ins Leben getreten bist?«
»Wie wird denn überhaupt etwas lebendig, Teichläufer?«
»Er oder sie bekommt eine Seele oder Seelen.« Ich lasse den Wedel los, und die Schildpattpuppe wippt mit ihm nach oben.
»Und wie hast du eine bekommen, als deine Seelen im Teich weggewaschen wurden?«
»Du warst doch da. Du brauchst mich nicht -«
»Denk darüber nach, du hirnloser Junge. So schlau bist selbst du, um dahinter zu kommen.«
Sie schießt in die Höhe wie ein fehlerlos geschleuderter Speer und fliegt schnurgerade nach Nordosten. Der Wedel wippt noch vor mir und fächelt mir kühle Morgenluft zu.
Schwarzer Regen trottete auf dem Wildpfad zwischen Biberpfote, der voranging, und Schwebestern, der die Nachhut bildete. Palmen säumten den Pfad, die Wedel bewegten sich im Wind. Schwere Beerentrauben hingen in ihrer Reichweite. Hätte sie nur Zeit gehabt, dann wäre sie stehen geblieben, um Hände voll davon zu pflücken und unterwegs zu essen. Aber sie hatte keine Zeit. Schwebestern sagte, sie würden das Dorf des Stehenden Horns an diesem Abend erreichen oder spätestens morgen früh; sie hatte also ihre schönste rote Tunika angezogen und sie mit einem geflochtenen Kaninchenfellriemen straff gegürtet. Das frisch gewaschene schwarze Haar hing ihr in glänzender Fülle über die Schultern und flatterte im Wind. Im kleinen Rückenbeutel klingelten und klapperten Wertsachen. Sie hatte viele wertvolle Steinwerkzeuge gewonnen, auch Halsketten, aus Wolfszähnen gefertigte Punzgeräte mit Griff zum Durchlöchern von Leder, sogar ein paar spitz gebrannte Bestattungsstöcke, mit bunt gefärbten Schnüren umwickelt. All das würde sie in dem großen Spiel brauchen; da würden hohe Beträge eingesetzt werden, und sie wollte bei den heißesten Spielen dabei sein.
Hinter ihr fluchte Schwebestern. Sie blickte über die Schulter zurück. »Was ist los?« Er wischte sich mit einem schweißnassen Arm über das hässliche, eckige Gesicht. Er trug einen Lendenschurz und eine wertlose Halskette aus Wellhornschneckengehäusen. »Ich war in Gedanken und lief in eine dicke Traube von reifen Palmbeeren.«
Schwarzer Regen lachte. »Dann pass doch besser auf.« Sie ging etwas schneller weiter und holte Biberpfote ein.
Zwar hielt sie es nicht für besonders klug, sich derart mühsam den Weg durch diesen Wald zu bahnen, doch Schwebestern hatte ihnen klargemacht, dass hier nur eine Gefahr bestand, nämlich die durch Kupferkopfs Krieger, die jedoch zumeist seine Verwandten waren. In einer unerfreulichen Auseinandersetzung hatte Schwebestern Biberpfote versichert, dass nur seine Gegenwart ihnen Sicherheit versprach. Schwarzer Regen grinste insgeheim darüber; Biberpfote
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