Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
ich dankbar.«
Sie aß die letzten Bohnen, trank den Tee aus und stellte die Tasse in die Schale. »Also ich wasche ab, und du suchst zusammen, was wir für unsere Reise brauchen.«
Sängerling gab ihr sein Geschirr und stand auf. »Ich sehe jetzt am besten mal nach Dünes Ritualbündel. Dann lege ich unsere Sachen heraus. Wir sollten wohl vor Tagesanbruch aufbrechen. Ist dir das recht?«
»Je eher, desto besser, Sängerling.«
Aber als er sah, wie ihre Kiefermuskeln dauernd in Bewegung waren, zweifelte er daran. Sie glich einer Frau, die nur mit einem Hirschknochendolch bewaffnet auszieht, um einen Grizzly zu erlegen. »Seide?«
Sie drehte sich um, den Türvorhang noch in der Hand. »Ja?« »Meinst du, der Rabe wollte uns vielleicht etwas von dem Läufer erzählen? Daß der Junge uns schlechte Nachrichten bringt?« Das schmutzige Geschirr in ihren Händen klapperte heftig, als sie versuchte, es besser in den Griff zu bekommen. »Vielleicht hat er uns auch einfach nur davor gewarnt, daß in Krallenstadt etwas geschehen wird.« Sie sah ihn an und duckte sich unter den Vorhang.
Sängerling blickte auf den schwingenden Vorhang und bedachte das. Dann nickte er sich selbst zu und ging zu den aufgestapelten Körben, um Dünes Ritualbündel zu suchen.
27. K APITEL
Die lauten Stimmen weckten Federstein aus dem Schlaf. Sie hatte sich schnarchend verschluckt, rang nach Luft und blinzelte den Schlaf aus ihren trüben alten Augen. Die roten Muster auf ihrem hellbraunen Kleid leuchteten im Licht, das durch die Dachluke einfiel. Ja, sie war hier, in ihrem Zimmer, umgeben von ihren bemalten Töpfen und den vertrauten weißen Wänden. Sie war in Krallenstadt; ihre Seele war daheim.
»O ihr Götter«, schrie eine Frau draußen, »was ist passiert?« »Schnell!« erschallte Eisenholz' Stimme vor Federsteins Tür. »Jemand soll Schlangenhaupt holen! Und -«
Ein Stimmengewirr übertönte den Rest. Die Stadthunde fingen zu bellen an; sie heulten wie Coyoten. Leute liefen draußen vorbei.
»Wo ist Düne?« brüllte Eisenholz. »Und Nordlicht?… Also gut, dann sucht sie!«
Federstein kämmte sich ihr schulterlanges graues Haar mit den Fingern und ergriff ihren Krückstock. Grunzend stand sie auf. Die Knie zitterten ihr, aber indem sie sich mit beiden Händen auf den polierten Griff ihres Stocks stützte, gelang es ihr, den alten Beinen Halt zu geben. Ihre vorstehende Nase war im Lauf der Sommer breiter und länger geworden und nahm nun die Hälfte ihres Gesichts ein. Wohin sie auch immer schaute - sie sah ihre Nase. Es störte sie. Sie war so ein schönes Kind gewesen. Sie besaß ganz allein zwei Zimmer. Eines benutzte sie als Vorratskammer, und das andere diente ihr als Wohn- und zugleich als Schlafzimmer. Sie war neben der Glutschale und dem Kessel mit dampfendem Fichtennadeltee eingedöst. Das Zimmer maß drei Körperlängen im Quadrat. Eine dicke Lage von Hirschfellen - ein Geschenk ihres gesegneten Sohns Spannerraupe - bedeckte den Boden. Auf den Wänden tanzten und drehten sich maskierte Thlatsinas unter einem dunkelblauen Dach, das mit leuchtenden weißen Sternen bemalt war; sie nur anzusehen, erfüllte ihr altes Herz mit heiterer Gelassenheit. Hier, in diesem Zimmer, tanzten sie allein für Federstein. Ihre Götter waren es und niemandes sonst.
Sie lächelte und strich mit der Zunge durch die Lücke, wo einmal ihre Vorderzähne gewesen waren. Einst, vor langer Zeit, hatte sie viele Götter gekannt. Aber das war, bevor die Feuerhunde der Mogollon sie gefangengenommen und so lange auf den Kopf geprügelt hatten, bis ihre Seele verletzt worden war.
Es war erstaunlich, mit welcher Klarheit sie sich an ihre Kindheit erinnern konnte. Schon als kleines Mädchen war sie mit großer Macht gesegnet gewesen. Alle hatten erwartet, daß sie einmal Sonnenseherin sein würde. Im Alter von zehn Sommern war sie auf dem Rücken einer Libelle kreiselnd zu Schwester Mond aufgefahren. Die Libelle war höher und höher geschwirrt, bis sie endlich auf dem höchsten Silbergipfel im Antlitz von Schwester Mond gelandet war. Federstein war über das gleißende staubige Land gewandelt. Mit der funkelnden Stimme eines Meteors hatte sie zu Schwester Mond gesprochen, deren vergnügtes Lachen über den leuchtenden Himmel blitzte, wie zermahlender Türkis, der in den Wind geworfen wird. Jetzt war ihr Augenlicht schwach geworden, und viele Dinge in dieser Welt nahm sie nicht mehr wahr; aber dieses Lachen schallte immer noch volltönend durch ihre
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