Vorzeitsaga 09 - Das Volk des Nebels
Abwechslung von der Hirschjagd.« Das angestrengte Lächeln erlosch, als er Sonnenmuschels ausdrucksloses Gesicht blickte. »Hallo, liebe Freundin.«
»Schön, dich zu sehen, Weidenstumpf.« Sonnenmuschel lächelte mit schmalen Lippen. Es war offensichtlich, dass sie sich nicht wohl fühlte.
Jaguar schenkte Weidenstumpf sein verstörendes Grinsen, das Totenkopf-Grinsen, das er so lange geübt hatte.
Weidenstumpf blickte ihn unsicher an und drehte den Schaft des Rechens hin und her. »Unten fehlen noch ein paar Zinken.« Er deutete abwesend auf das Werkzeug. »Ich muss sie ersetzen.«
»Mit Schnur gebunden, wie ich sehe, und nicht mit Sehnen?«
»Nein, Ältester, natürlich nicht. Sehnen dehnen sich im Wasser. Eine Schnur ist besser.«
»Wird ein kalter Tag dort draußen. Raues Wasser.« Hohe Wellen wälzten sich durch den Flussarm.
»Du fährst doch sicher nicht in die Salzwasserbucht selbst, oder?«
»Nein, Ältester. Der Fischfluss ist rau genug. Aber kalt wird mir trotzdem sein. Ich fürchte, ich werde so viel Sprühwasser einholen, dass das Feuer ausgeht.« Er deutete auf einen schlanken Einbaum gegenüber dem, auf dem er saß. Eine angekohlte Holzschale war mittschiffs auf den Boden gestellt.
Die Fischer zündeten in den Hartholzschalen Feuer an, um sich warm zu halten und die Fische nachts in ihre Netze zu locken. Wenn man aufmerksam genug war, erlosch das Feuer auf dem Wasser nicht, und man konnte die Glut auch über lange Entfernungen halten und sich auf der Fahrt Fische und Wasservögel braten.
»Wie ich höre, warst du es, der die Leiche der armen Rote Schlinge gefunden hat.« Jaguar zog die alte Stoff decke fest um seine Schultern. Er wünschte, sie hätten nicht hier am ungeschützten Strand, sondern im Langhaus neben dem Feuer miteinander sprechen können.
»Das stimmt, Ältester. Ich bin der Spur von Wilder Fuchs gefolgt bis zu der Stelle oben auf dem Hügel, wo der Körper im Laub versteckt war.« Mit gequältem Gesichtsausdruck schaute er schnell zu Sonnenmuschel hinüber, als fühlte er sich schuldig.
»Oh, hab keine Angst«, sagte Jaguar sanft, »ich weiß, ihr seid schon seit langer Zeit befreundet, du und Sonnenmuschel.«
Weidenstumpf nickte, die Lippen fest aufeinander gepresst, als bisse er sich die Wörter ab.
»Und du und Wilder Fuchs, ihr habt als Kinder viel Zeit miteinander verbracht. Die besten Freunde, wenn die Clans sich besuchten oder wenn du nach Drei Myrten gingst.«
Weidenstumpf nickte.
Jaguar winkte wieder zu seiner Begleiterin hinüber. »Ja, Sonnenmuschel hat mir viel über euch erzählt, über dich und Wilder Fuchs. Sie sagte auch, dass du Rote Schlinge heiraten wolltest. Dass du dich in sie verliebt hattest.«
Weidenstumpf sah Sonnenmuschel finster an. Er wurde rot und unterdrückte mit zusammengebissenen Zähnen den Ärger über den Verrat. »Meine ›Freundin‹ scheint neuerdings eine ziemlich lockere Zunge zu haben.«
»Aber, mein lieber Jäger, wenn sich die Zungen nicht lockern, kommen wir nie dahinter, was mit Rote Schlinge geschehen ist.« Jaguar trat näher. »Es hat dir doch sicher nicht gefallen, dass die reizende Rote Schlinge Kupferdonner versprochen war.«
Weidensrumpf atmete tief ein und senkte den Blick. Er strich über die Maserung des hölzernen Griffs.
»Ich kenne meine Stellung, Ältester. Sie war die Enkeltochter der Weroansqua. Wir wussten es. Alle, außer Wilder Fuchs.« Seine Lippen zuckten. »Der lebte gern gefährlich.«
»Das ist ja eine merkwürdige Erklärung. Als ich Wilder Fuchs traf, war er ziemlich am Boden und halb tot vor Angst.« »Ach ja? Frag doch mal deine Freundin dort. Los, Sonnenmuschel, erzähl es ihm!
Wilder Fuchs dachte, er kann sich alles erlauben. Er, der Sohn von Schwarzer Dorn. Er kann sogar ein Risiko mit der Enkelin der Weroansqua eingehen.«
»Welches Risiko?« Jaguar blickte fragend von Sonnenmuschel zu Weidenstumpf. »Davon hat Sonnenmuschel mir nie etwas erzählt.«
»Natürlich nicht, sie deckt ihn doch. Er ist ihr Freund, er ist ihr ans Herz gewachsen. Sie glaubt, sie liebt ihn, und sie verzeiht ihm alles. Und sie stecken unter einer Decke. Bist du etwa nicht selbst darauf gekommen, Ältester? Sind deine Zauberkräfte so kläglich, dass du nicht einmal bemerkst, wann du belogen wirst?«
Sonnenmuschel ließ ihre Hand auf die Keule fallen, aber sie sagte nichts.
»Belogen? Ich?« Jaguar war verdutzt, deutete dann mit dem Daumen auf Sonnenmuschel. »Von Sonnenmuschel? Das ist doch
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