Voyeur
dass er sich zu einem Geburtstag nicht gemeldet hat.»
|185| Ich versuchte, mir meine Verärgerung über diese Nachricht nicht anmerken zu lassen. Bisher war alles bestens gelaufen. «Anna,
Geburtstage werden ständig vergessen. Es muss nicht unbedingt etwas bedeuten.»
«Aber Marty ist bei solchen Dingen immer sehr gewissenhaft. Und sein Vater hat gesagt, er hat noch nie einen Geburtstag vergessen.»
Mir fiel nichts ein, um Martys Gedächtnislücke überzeugend zu verteidigen. «Was haben Sie ihm erzählt?»
Sie zuckte mit den Achseln. «Was sollte ich ihm sagen, außer dass Marty vor ungefähr einer Woche verschwunden ist und ich
nicht weiß, wo er steckt? Er wollte wissen, warum ich ihnen nicht sofort Bescheid gesagt habe. Ich habe ihm gesagt, dass
ich die Nummer nicht hatte, aber ich vermute, er hat mir nicht geglaubt.»
«Aber das hat er doch nicht gesagt, oder?»
«Nein, er hat mir nur ziemlich genau zu verstehen gegeben, was er denkt. Er hat gefragt, warum Marty verschwunden ist,
und als ich sagte, dass ich keine Ahnung habe, hat er gesagt: ‹Haben Sie wenigstens alles getan, um ihn zu finden?› Als
wäre es mir völlig egal!» Sie rieb sich wütend die Tränen aus den Augen.
«Kommen Sie. Setzen Sie sich.» Ich nahm ihren Arm und führte sie zu einem Stuhl. Es war, als würden meine Finger die Berührung
speichern. Ich schenkte uns beiden einen Kaffee ein und setzte mich ihr gegenüber. «Haben Sie ihm erzählt, dass Sie bei der
Polizei gewesen sind?»
Sie nickte. «Ja, aber als ich ihm gesagt habe, was die Polizei unternimmt, hat er gemeint: ‹Genau genommen also gar nichts.›
Dann wollte er wissen, was ich ansonsten getan habe, |186| und als ich versuchte, es ihm zu erklären, klang es so, als wäre ich im Grunde völlig untätig. Ich kam mir vor wie ein
gefühlloses Miststück.»
«Das sind Sie nicht.»
«Nein, aber er hat … ach, er hat mir das Gefühl gegeben, als hätte ich überhaupt kein Interesse daran, Marty zu finden, wissen Sie? Ich spürte,
dass er dachte, ich wüsste viel mehr, als ich ihm sage. Er denkt offenbar, es muss irgendwie meine Schuld sein, dass Marty
verschwunden ist.»
Ich konnte ihre Empörung verstehen. «Das ist doch Unsinn!»
«Ich weiß es nicht, ich werde langsam unsicher.» Die Stimme drohte ihr zu versagen. Sie hielt die Kaffeetasse mit beiden
Händen, als wollte sie sich daran wärmen. Sie sah sehr verletzlich aus.
«Das sollten Sie aber nicht! Lassen Sie sich von ihm nicht durcheinanderbringen, er hat wahrscheinlich nur seine Laune an
Ihnen ausgelassen, weil Sie gerade da waren. Haben Sie nicht gesagt, dass Marty nicht mit ihm zurechtkam?» Sie nickte. «Na
also, da haben wir es! Jetzt wissen Sie, warum. Jemand, der solch voreilige Schlüsse zieht, ist offensichtlich völlig
unsensibel!» Ich war bereits geneigt, den Mann unsympathisch zu finden.
«Ich weiß, Sie haben wahrscheinlich recht», sagte Anna etwas ruhiger. «Trotzdem ist mir durch ihn klargeworden, dass ich
eigentlich nichts mache. Marty wird vermisst, und ich sitze einfach da und warte darauf, dass er zurückkommt. Das reicht
nicht.»
«Sie haben alles getan, was Sie tun können. Hat Martys Vater irgendeinen Vorschlag gemacht, was Sie sonst hätten |187| tun können, oder hat er angeboten, selbst etwas zu unternehmen? Oder hat er Sie nur kritisiert?»
Sie seufzte erschöpft. «Er will sich ans Außenministerium wenden, vielleicht können die etwas unternehmen. Daraufhin habe
ich gesagt, dass ich mich hier an die Botschaft wenden will.» Sie schüttelte den Kopf. «Darauf hätte ich selbst kommen müssen.»
Ich vielleicht auch. «Kann man von dort Hilfe erwarten?»
«Ich weiß es nicht. Vielleicht können sie etwas Druck auf die Polizei ausüben, damit die sich ein bisschen mehr bemüht.»
Sie klang nicht besonders hoffnungsvoll. «Irgendetwas muss jedenfalls unternommen werden. Gestern Abend habe ich bei der Polizei
angerufen, um den Beamten zu erzählen, was Martys Vater gesagt hat. Ich dachte, sie würden die Sache daraufhin etwas ernster
nehmen, aber die Mühe hätte ich mir sparen können.» Bei der Erinnerung daran verzog sie ihr Gesicht. «Ich habe mit diesem …» – sie rang um eine angemessene Beschreibung –, «… mit diesem
Schwein
von einem Sergeant gesprochen, der nur sagte, er würde eine Notiz dazu machen. Als ich fragte, was sie sonst noch unternehmen
würden, sagte er, dass Marty bereits auf der Vermisstenliste
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