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VT02 - Der gierige Schlund

VT02 - Der gierige Schlund

Titel: VT02 - Der gierige Schlund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael M. Thurner
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Fluchtversuche und labt sich an unserem Elend.
    Der Wütende Herr machte seinem Namen alle Ehre. Seine Wasserzungen leckten übers Land, griffen nach allem, das ihm in den Weg kam. Immer höher stieg das Wasser; kaum noch kam Kinga vorwärts. Schon musste er waten, dann schwimmen, gegen die unberechenbaren Strömungen ankämpfen. Von seinen Kameraden war nichts mehr zu sehen; wahrscheinlich lagen sie zerschmettert zwischen den Felsen.
    Das Lachen Aksamas verstummte. Hatte es ihn ebenfalls erwischt? War er in seiner eigenen Falle gefangen?
    Kinga sah eine einzige Chance: Er musste jenen Weg finden, den sie gekommen waren. Sobald sich das Wasser bis zu jener Oberkante aufgestaut hatte, die sie hinabgeklettert waren, würde er ins Höhlenlabyrinth laufen. Der Wütende Herr mochte sich ausbreiten und die endlos scheinenden Gänge in Besitz nehmen. Irgendwann würde er sich einen neuen Weg ins Freie bahnen. Niemand konnte diesen fürchterlichen Fluss auf Dauer bändigen.
    Kinga musste einfach nur schneller sein.
    Wo war die Felskante? Wo befand sich der Einstieg?
    Alles drehte sich um ihn. Längst hatte er den Boden unter den Füßen verloren, musste treten, schwimmen, tauchen. Alles um ihn war Wasser und Schaum und Sog und Strudel. Oben und unten wurden genau so bedeutungslos wie die Sekunden und Minuten, die er gegen die Eiseskälte des Wütenden Herrn ankämpfte.
    Irgendwann stieß er gegen Stein und bemerkte, dass er nahe der Höhlendecke um sein Leben strampelte. Rings um ihn war alles grau und schwarz. Kein Licht, kein Geräusch. Nur noch ein zerfetzter Balken, der Rest einer Holzbohle, an der er sich instinktiv festklammerte.
    Er hustete, atmete ein letztes Mal ein.
    Der Wütende Herr hatte den Raum endgültig erobert. Und nun würde er ihn verschlucken und in die Vergessenheit jagen.
    Kinga starb mit einem letzten, bedauernden Gedanken an Lourdes.
    ***
    Er verstand es nicht. Sein Kopf, der so dringend nach Nahrung gierte, wollte oder konnte ihm nicht sagen, was geschehen war. Die anderen waren alle tot, bis auf einen, dessen Bein unbrauchbar geworden war. Und das Nahrungswesen… es saß neben ihm, blickte starr gegen die engen Wände, die sie umgaben.
    Er stand auf. Zum sechsten oder siebten Mal klammerte er sich im Erdreich fest. Zog sich hoch, schob die Beine nach. Zentimeter für Zentimeter.
    Und rutschte wieder zurück. Der Schlick unter seinen Fingern bot keinerlei Widerstand. Die Wände standen zu weit auseinander, um sich an beiden Seiten abstützen zu können und so nach oben zu klettern.
    Er rieb sich die Augen und spuckte Erde aus. Sie schmeckte nicht.
    Er streichelte dem Nahrungswesen über den Kopf. Eine einzige Bewegung, und er würde sich sättigen können…
    Nein. Ein Befehl, tief verankert und nicht zu umgehen, hinderte ihn daran.
    Er setzte sich. Stand wieder auf. Presste seine Hände neuerlich in den Schlamm, suchte nach Halt. Zog sich hoch, schob die Beine nach. Zentimeter für Zentimeter.
    Und rutschte wieder zurück.
    ***
    Grässliche Kopfschmerzen holten ihn zurück. Kinga legte sich zur Seite und erbrach Wasser.
    Er versuchte seinen Leib ein wenig anzuheben, aber da war keine Kraft in seinen Armen. Er war eine amorphe Masse ohne Glieder und Knochen, kaum fähig zu kriechen.
    Ein vager Lichtschimmer, der aus den Wänden drang, ließ ihn die Umgebung erkennen. Da wuchsen Stalagmiten und Stalaktiten im niedrigen Raum, umgaben seinen Liegeplatz wie mit Gitterstäben. Der Boden, von Lehm überzogen, strahlte unbestimmte Wärme aus.
    Und keine zehn Meter von ihm entfernt saß eine Gestalt. Ruhig, mit nach vorn gebeugtem Kopf, im Schneidersitz. Langes wirres Haar hing dem Mann ins bärtige Gesicht.
    »Sag danke zu mir, mein Kleiner, sag danke!«, rief der Mann. »Dankedankedanke!«
    Kinga gab keine Antwort. Das Denken fiel ihm schwer. Eben erst kehrte die Erinnerung an das Geschehene zurück, all die schrecklichen Bilder. Das Gefühl der sich mit Wasser füllenden Lunge. Die Schmerzen. Die Angst vor dem Tod. Die tiefe Resignation, das Bewusstsein, dass alles endete…
    Tränen füllten seine Augen, und Kinga wusste nicht wieso. Das Gefühl der Übelkeit wollte einfach nicht vergehen. Sein Magen war leer, seine Seele war leer.
    »Warum?«, fragte er schließlich leise.
    »Musste sein, musste sein«, kam die Antwort, wie aus der Luftdruckpistole geschossen. Als wüsste sein Gegenüber ganz genau, was Kinga meinte. Arme bewegten sich wie die eines Windrads. »Menschen hier sind böseschlecht,

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