VT09 - Die tödliche Woge
vorbei«, sagte Niemand zufrieden.
***
Sofort nachdem sie das Haus der Heiler verlassen hatte, ließ Marie den Witveerlenker Adrien zu sich rufen und beauftragte ihn damit, die medizinischen Bücher aus dem Haus der Heiler in Wimereux-à-l’Hauteur herbeizuschaffen. Dabei befahl sie ihm ausdrücklich, ihrem Vater die verzweifelte Lage zu verdeutlichen und ihn zu bitten, endlich Verstärkung zu schicken.
Adrien versicherte, spätestens morgen Abend mit den Büchern und allen Antworten auf ihre Fragen zurückzukehren, und verließ den Palast.
Morgen Abend, sinnierte Marie. Da wird es vielleicht schon zu spät sein…
Sie rief Goodefroot zu sich und befahl ihm, einen weiteren Witveer satteln zu lassen. Der Kanzler versuchte sie von ihrem Vorhaben abzubringen, aber Marie war entschlossen, nicht länger herumzusitzen und ihre Umgebung mit ihrer schlechten Laune anzustecken. Außerdem, Blutverlust hin oder her, sie hatte de Fouché versichert, die Verteidigungsmaßnahmen in Muhnzipal persönlich zu leiten, und dieses Versprechen wollte sie erfüllen.
»Aber Ihr braucht Ruhe«, wiederholte Goodefroot. »Ihr habt die ganze Nacht nicht geschlafen. Wenn man noch dazu bedenkt, was Ihr durchgemacht habt…«
»Die Menschen in den Dörfern haben Schlimmeres erlebt. Ich werde sie in einer solchen Situation nicht im Stich lassen.«
Goodefroot wollte zu einer Erwiderung ansetzen, aber Marie schnitt ihm barsch das Wort ab. »Ich habe ihm einen Befehl erteilt, Kanzler! Führe er ihn unverzüglich aus, oder ich lasse ihn den Gruh zum Fraß vorwerfen.«
Goodefroot gab sich geschlagen und ließ den Witveer satteln. Es war der letzte der Riesenschwäne, der sich noch in Orleans aufhielt.
Es war kurz vor zwölf Uhr mittags, als Prinzessin Marie auf den Schwingen des Witveers Orleans-à-l’Hauteur hinter sich ließ.
Eine Viertelstunde später traf der Sonderbeauftragte für Militärisches an derselben Stelle im Palastgarten ein. Er suchte Kanzler Goodefroot in seinen Verwaltungsräumen auf, wo er laufend neue Botschaften von den Spähern empfing.
Nutzlose Botschaften, dachte de Fouchés höhnisch. Es ist stets besser, sich selbst ein Bild der Lage zu verschaffen.
»Ich muss sofort die Prinzessin sprechen«, fuhr er Goodefroot an.
Der Kanzler blickte indigniert von seiner Arbeit auf. »Ihre Excellenz ist nach Muhnzipal aufgebrochen.«
»Umso besser.«
»Wie meinen?«
De Fouché reckte den Kopf, wie eine Schlange, die sich zum Angriff rüstet.
»Ich hörte davon, dass Ihrer Excellenz Blut abgenommen wurde.«
Goodefroot blickte ihn aus schmalen Augen an. »Dies geschah nur zu Testzwecken«, erwiderte er vorsichtig.
»Ist sie infiziert?«
»Natürlich nicht!«
»Was für ein Glück!«, säuselte de Fouché. »Wie sollte die Wolkenstadt die Krise nur ohne ihre Herrscherin bestehen? Wo befinden sich die Blutkonserven jetzt?«
»Im Haus der Heiler, wo sie von Doktor Aksela untersucht werden.« Goodefroot kniff die Augen zu Schlitzen zusammen.
»Würde er mir vielleicht verraten, was er mit all diesen Fragen bezweckt?«
»Nichts, Kanzler. Gar nichts. Ich mache mir nur Sorgen.«
Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und verließ das Arbeitszimmer des Kanzlers.
Wenige Minuten später sah Goodefroot durch das Fenster, wie der Sonderbeauftragte für Militärisches den Palast in Richtung Haus der Heiler verließ.
***
Die beiden Gardisten hielten Niemand in Schach, während Wabo die Befragung übernahm.
»Du bist uns eine Erklärung schuldig!«, sagte er mit schneidender Stimme. »Wieso hast du uns zunächst in eine Falle gelockt und dann gerettet – nur um einen von uns dann niederträchtig zu ermorden?«
Da er die Hände nicht benutzen konnte, schabte Niemand mit dem Hinterkopf über den Felsboden, um den Juckreiz zu lindern. »Ahmbruhst geben. Dann bringen zum Anführer der Gruh.«
»Die Armbrust kannst du vergessen, Freundchen«, entgegnete Wabo, und seine Hand fuhr in einer eindeutigen Geste zum Säbel. »Ich will eine Erklärung, oder du wirst hier an Ort und Stelle sterben.«
»Keine Zeit für Erklärungen.«
»Warum hast du Hauptmann Cris getötet?«
»Leutnant Cris«, korrigierte Niemand wie selbstverständlich. Wabo und Nabuu wechselten einen Blick.
Offenbar war Niemand verrückt geworden.
Nein, korrigierte Nabuu sich in Gedanken, verrückt war er schon die ganze Zeit über gewesen. Jetzt war er auch noch mordlüstern.
Wieder schabte Niemand mit dem Hinterkopf über den Stein.
»Er kennt
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