VT09 - Die tödliche Woge
bösartige Stimme in seinem Hinterkopf.
De Fouché zog den Witveer in einem Bogen über die Große Grube. Im Sonnenlicht sah er sie: Wie ein graues Band bedeckten sie den schwarzen, von Vulkanschlacke und erkalteter Lava bedeckten Boden. Hunderte von Gruh, die in Richtung Muhnzipal marschierten.
Aus der Höhe war nicht zu erkennen, ob sie sich fortbewegten, aber als er mit dem Witveer tiefer ging, erkannte er einzelne graue Köpfe in dem schrecklichen Heer: ausgezehrte Gestalten, die den Kopf in den Nacken warfen und mit geöffnetem Rachen und tief in den Höhlen liegenden Augen zu ihm empor starrten. Dem Sonderbeauftragten für Militärisches lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Es war etwas anderes, am Konferenztisch im Palast von Orleans-à-l’Hauteur eine Verteidigungsstrategie gegen diese Bestien zu ersinnen und sie nun hier leibhaftig unter sich zu sehen.
Sie sind wie Vieh.
Und sie waren langsam.
Wieder schweiften seine Gedanken zurück zu Marie. Er wusste von Doktor Akselas Diagnose, dass Marie vom Gruhgift infiziert war, und dass sie versuchen wollte, aus ihrem Blut ein Gegenmittel zu gewinnen. Prinzessin Antoinette hatte die beiden belauscht und ihm die Neuigkeit brühwarm berichtet. Wenn es tatsächlich stimmte, bedeutete dies, dass sich in diesem Augenblick eine mit Gruhgift infizierte Blutkonserve im Labor im Haus der Heiler auf Orleans befand.
Eine Blutkonserve, die eine unermessliche Gefahr bedeuten konnte, wenn sie in falsche Hände geriet…
De Fouché zog den Witveer herum und kehrte nach Orleans zurück. Die Prinzessin hatte ihm zwar befohlen, die Verladung der Dampfdruckkanonen von Ribe nach Muhnzipal zu überwachen, aber das bewies nur, dass sie weniger Verstand als ein Maelwoorm besaß. Die Verladung lief auch ohne sein Zutun bestens. Er hatte sich um wichtigere Dinge zu kümmern…
***
Nabuu starrte mit leerem Blick auf die Fellflasche in seiner Hand, von deren geöffnetem Verschluss sich ein einzelner Tropfen löste und auf das feuchte Felsgestein unter Nabuu platschte.
Die Flasche war leer. Nabuu war leer.
Auch wenn Wabo Ngaaba weiterhin kein Anzeichen von Zweifel aufkommen ließ, dass sie sich auf dem richtigen Weg befanden, schwand unter den Beteiligten der Expedition die Zuversicht. Es war jetzt sechs Stunden her, dass sie den See verlassen hatten. Sechs weitere Stunden ohne Nahrung, ohne Ruhe und ohne Orientierung in diesem verfluchten, ewig gleichen Labyrinth. Niemand von ihnen vermochte mehr zu sagen, ob sie sich tief im Berginnern oder unmittelbar unter der Erdoberfläche aufhielten. Niemand von ihnen kannte den Weg zu den Gruh, und niemand kannte den Weg zurück ans Tageslicht. Selbst wenn sie jetzt noch eine Spur von Prinzessin Lourdes fanden… sie hatten sich hoffnungslos verirrt.
Und wenn schon. Wir wären ohnehin gestorben.
Müde wandte Nabuu den Kopf. Er hatte ein Geräusch vernommen.
Irgendwo hinter ihnen waren leise, tapsende Schritte aufgeklungen, von denen er nicht wusste, ob er sie wirklich gehört oder sich nur eingebildet hatte. Schon einige Male in den letzten Stunden hatte er geglaubt, dass die Gruh ihnen auf den Fersen waren. Hauptmann Cris, ebenfalls fast bewusstlos vor Müdigkeit und Erschöpfung, hatte seinen Säbel aus der Scheide gezogen und gegen einen unsichtbaren Gegner gekämpft, bis es Wabo, Nabuu und den drei verbliebenen Gardisten gelang, ihm die Waffe abzunehmen und ihn wieder zu Verstand zu bringen. Jetzt trottete Cris mit gesenktem Kopf hinter ihnen her. Er schien seine Umgebung überhaupt nicht mehr wahrzunehmen, und auch der Hass gegenüber Nabuu war einer ziellosen Gleichgültigkeit gewichen.
»Halt!«
Nabuu verharrte automatisch, als Wabo vor ihnen die Hand hob.
Der Kriegsminister bückte sich und hob einen Fetzen Stoff auf, der vor ihm auf dem Boden lag. Er war mit Blut durchtränkt und offenbar von einem Kleidungsstück abgerissen worden.
Nabuu erkannte das Muster wieder. »Das gehört Prinzessin Lourdes.« Sie hatte es getragen, als sie mit Lomboko, dem
»Raffzahn« und gefürchteten Steuereintreiber in Kilmalie eingetroffen war. Kurz darauf war das Dorf von Gruh angegriffen worden, die Prinzessin Lourdes entführten. [4] Wabo schnüffelte. »Es riecht nach Tod.«
Jetzt roch Nabuu es auch. Der süßliche Geruch von Verwesung stand wie ein Pestwolke in dem Labyrinth. Wabo gab den Befehl, die Armbrüste schussbereit zu halten. Lautlos schlichen sie weiter.
Auch Nabuus Sinne waren auf das Dunkel vor ihnen gerichtet. Die
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