Vulkanpark
Horchte ihren Empfindungen nach. Wartete ab, was mit ihr
geschah. Zu ihrer eigenen Überraschung spürte sie, wie sich die Spannung in ihr
langsam ins Unerträgliche steigerte. Die Welt stand still und hörte auf, sich
zu drehen. Eine Welle der Lust überschwemmte sie. Ihr Atem ging in ein Keuchen
über. In ihrer Kehle war Feuer. Ihr ganzer Körper brannte. Sie fühlte etwas in
ihr drinnen, das sie noch nie gespürt hatte. Etwas Mächtiges, das aus den
Tiefen ihres Inneren hochstieg und an die Oberfläche wollte. Eine Kraft, die
sich langsam steigerte und kurz davor war, zu explodieren. So musste es sich
anfühlen, wenn man sich, an ein Seil gebunden, ins Bodenlose fallen ließ. Und
überrascht war, dass das Seil nicht riss.
Sie
hatte nicht geglaubt, dass es noch Erfahrungswelten gab, die ihr unbekannt
waren. Sie hatte geglaubt, alles erlebt und gesehen zu haben. Ihr Beruf hatte
ihr so manches offenbart, auf das sie gern verzichtet hätte. Doch dieses
Erlebnis war mit keinem anderen zu vergleichen. Es spielte sich jenseits dessen
ab, was sie kannte. Sie lebte es in diesem Moment, gleichzeitig war sie nicht
sicher, ob eine Wiederholung möglich war. Darüber wollte sie nicht nachdenken.
Sie wollte nur spüren, fühlen, genießen, wie die Wellen des Schauers über ihren
Körper jagten, der kurz davor war, zu explodieren.
Wie sie
dieses Gefühl der totalen Hingabe genoss. Dieses Ausgeliefertsein. Dabei fühlte
sie sich vollkommen sicher. Eine Grenzüberschreitung, die sie nie für möglich
gehalten hätte. Eine Tür in eine andere Welt war aufgestoßen worden. Eine neue
Dimension offenbarte sich ihr. Der absolute Kick.
47
Die nächsten Tage erlebte
Dorothee wie in Trance. Anfangs hob sie den Hörer noch ab, wenn das Telefon
klingelte. Aber es waren entweder Journalisten, die blöde Fragen stellten, oder
ihr unbekannte Leute, die sie als ›Mörderhure‹ beschimpften.
Jemand,
der verhaftet wurde, galt offenbar für die Öffentlichkeit sofort als schuldig,
auch wenn dies erst vor Gericht noch bewiesen werden musste. Aber nicht nur der
vermeintliche Täter wurde verurteilt, seine Familie nahm man einfach mit in
Sippenhaft, ohne dass jemand nachfragte, ob an den Anschuldigungen überhaupt
etwas dran war. Der Mensch erwies sich einmal mehr als Herdentier, das allen
hinterherlief, nur weil das Leittier blökte.
Obwohl
sich ständig nagende Zweifel in ihrem Hirn einnisteten, wollte sie an Michaels
Unschuld glauben. Sie grübelte und grübelte. Wie hatte er sich in letzter Zeit
verhalten? War das wirklich so normal, wie sie geglaubt hatte? Hatte es kleine
Anzeichen gegeben, die sie übersah? Und der plötzliche Urlaub? Wollte er
davonlaufen? War das etwa nur eine Flucht?
Ihr
ganzes Leben mit Michael, dem Mann, den sie für integer und anständig gehalten
hatte – sollte das alles ein schreckliches Trugbild gewesen sein?
Sie
traute sich nicht mehr vor die Tür. Die Kinder verstanden das am
allerwenigsten. Gerade hatten sie noch einen so schönen Urlaub mit ihrem Papa
erlebt, und jetzt war er nicht mehr da – einfach abgeholt von der Polizei. Sie
bettelten und wollten nach draußen in den Garten, an die Mosel. Es war doch
Sommer. Das Wetter war herrlich. Und Dorothee fand keine Worte, ihnen das zu
erklären.
In
ihren kleinen Gesichtern stellte sie ständig Ähnlichkeiten mit ihrem Vater
fest, winzige Details. Die Art ihres Lächelns, wie sie in bestimmten
Situationen den Mund verzogen, Lucias Stirnwirbel. Während ihre Tochter vom
Äußeren her mehr ihr selbst glich, war Elias das Abbild seines Vaters. Und in
seinem gesamten Wesen konnte man schon jetzt Gemeinsamkeiten feststellen.
Ein
schrecklicher Gedanke durchzuckte sie. Ein Gedanke, der größer und mächtiger
wurde. Mit einem Mal erschrak sie ganz fürchterlich: Was, wenn ich die Brut
eines Mörders großziehe? Ein Gedanke, der sich irgendwo in ihren Hirnwindungen
wieder verlor, den sie sich kaum traute weiterzudenken. Doch der Gedanke kam immer
wieder zurück.
Konnte
ein Mensch sich tatsächlich so verstellen? Sollte Michael wirklich diese
schlimmen Verbrechen begangen haben, deren man ihn beschuldigte, und
anschließend sollte er nach Hause gekommen sein und so getan haben, als sei
nichts gewesen? Und wieso habe ich die ganze Zeit nichts gemerkt? Er war wie
immer gewesen. Still und ein wenig zurückgezogen. Da war keine plötzliche
Veränderung gewesen. Dass er seine Gefühle nicht allzu deutlich zeigen konnte,
daran war sie gewöhnt. Aber sie hatte im
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