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Vyleta, Dan

Vyleta, Dan

Titel: Vyleta, Dan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pavel und Ich
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Ungewollt wanderte ihr Blick auf den
Boden, und wieder einmal mühte sie sich, zu erraten, was da unten in Pavels
Räumen wohl vor sich, gehen mochte. Es gab keine Möglichkeit, ihre Neugier zu
befriedigen. Sie wusste, dass er überwacht wurde. Der Colonel würde von jeder
ihrer Bewegungen erfahren. Mit einem unguten Gefühl im Bauch setzte sie sich
in die Küche und fing an, Kartoffeln zu schälen. Sie waren kalt und hart wie
Stein.
    Während
sie so dasaß, ein Geschirrtuch auf dem Schoß und mechanisch vor sich hin
arbeitend, fragte sie sich gewissenhaft, ja sogar pflichtbewusst, ob es wirklich
sein konnte, dass sie sich verliebt hatte. Sie rief sich die Fahlheit seiner
Haut vor Augen, seinen knochigen, krank im Bett liegenden Körper, die spitzen
Wirbel seines Rückgrats. Wie hässlich ihr all dies doch erschienen war. Nichts
an ihm sprach sie körperlich an. Sie stellte sich vor, wie sie mit ihm beim
Liebesspiel war, in einer Stellung, die ihr gefiel, aber auch das regte sie
nicht an. Sie konnte sich weder die Farbe seiner Augen noch die Form seiner
Hände vor Augen rufen. Nur seinen Ehering sah sie lose auf seinem abgezehrten
Finger stecken. Sie hatte ihn nicht danach gefragt, hatte die Frage für
überflüssig gehalten. Es gab immer irgendwo zu Hause eine wartende Frau, da war
er wie alle anderen. Und doch wünschte sie sich Pavels Gesellschaft herbei,
sehnte sich danach, ihn zu berühren, seine Wange, den Arm. Doch lag kein Glück
in diesem Anflug von Liebe. Sie sah keine Möglichkeit, dass er sie nicht
verletzen würde.
    Als die
Kartoffeln geschält waren, stellte sie das Radio an und hörte eine erzieherische
Sendung über die Demokratie. Die Demokratie, erklärte der Sprecher, sei das
Geschenk der Alliierten an das zerstörte Land seiner Zuhörer. »Vom Joch der
Tyrannei erlöst, hinein in ein Zeitalter der Freiheit: hierin allein liegt die
Wahrheit des Mai 1945.« Sonja drehte am Frequenzregler und wechselte zu einem
Hörspiel. Sie war sich nicht sicher, glaubte die Stimme aber wiederzuerkennen.
Sie hatte während des glorreichen Tausendjährigen Reichs die Spätnachrichten
verlesen.
     
    »Fagin? Das ist aber ein komischer
Name. Was ist das für einer, ein Zigeuner?«
    »So was Ähnliches.«
    »Ich wusste gar nicht, dass es in
England Zigeuner gibt.«
    »Hör zu, Schlo', entweder willst
du, dass ich dir die Geschichte erzähle, oder nicht.«
    »Mach schon, Anders. Den anderen
Namen mag ich übrigens.
    Olliwer Twiest. Bei dem stellt
sich am Ende wahrscheinlich heraus, dass er ein König oder so was ist.«
    Sie saßen
eng um den Ofen gedrängt und flüsterten nur, um die anderen Jungen nicht
aufzuwecken. Es wird gegen vier oder fünf Uhr morgens gewesen sein. Anders
hatte fürchterliche Mühe damit, die Abenteuer Oliver Twists nachzuerzählen. An
seinem Gedächtnis lag es nicht, aber ohne die verschlungenen Sätze des Autors
fiel die Geschichte irgendwie in sich zusammen, löste sich in einzelne Episoden
und Gefühle auf, die kaum in Worte zu fassen waren, sondern nur erfahren werden
konnten. Vielleicht lag es daran, dass er das Ende nicht kannte: Das Erzählen
wäre ihm leichter gefallen, wäre ein klares Ziel zu sehen gewesen, irgendein
Punkt, den er hätte ansteuern können. Schlo' schien die Geschichte trotzdem zu
gefallen, er murmelte Namen und Wendungen nach, gleich nachdem er sie gehört
hatte, und drängte Anders immer wieder, ihm von Olivers ärmlicher Herkunft zu
erzählen, dem schlechten Essen und dem herzlosen Leiter des Armenhauses sowie
seinem ersten Zusammentreffen mit dem hakennasigen Fagin.
    »Mit einer
Hakennase«, flüsterte er dann, »genau wie Onkel Jakub«, und fuhr sich mit den
schmutzigen Fingern über die Stupsnase, bis sie glänzte wie ein Stück Speck.
    Die beiden
hatten nur etwa eine Stunde geschlafen. Schlo' war wieder von seinen Träumen
geplagt worden, und Anders hatte viel zum Grübeln. Er lag in seinen neuen
Mantel gewickelt, mit Wolfsfell, einem übergroßen Kragen und hölzernen Knöpfen.
Der Mantel war für einen kräftigen Mann geschneidert worden, dem er bis zu den
Knien reichen würde. Anders versank fast darin, die Ärmel hatte er sich
aufgerollt. Hinten hatte der Mantel einen Riss gehabt, den man mit zwölf
Stichen nähen musste, und in einer der Taschen fand Anders ein paar ausländische
Münzen, in einer anderen die Karte eines Wiener Kürschners, die mit der
hübschen Zeichnung eines Fuchses geschmückt war. Natürlich hielt er den Mantel
für den besten, den er

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