Wach nicht auf!: Roman (German Edition)
und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Ach Sam, du musst dir deswegen nicht den Kopf zerbrechen, dein Vater gibt dir doch nicht die Schuld.« Ihr Blick schoss zu Lawrence hinüber. »Nicht wahr, Liebling?«
Er antwortete nicht.
»Genau, wie ich es mir gedacht habe«, erklärte Sam, schüttelte den Arm ihrer Mutter ab und humpelte zum Flur.
»Warte doch, Sam, geh nicht weg«, rief ihre Mutter. »Lass uns diese … diese Misshelligkeiten vergessen. Lass uns zusammensitzen und nett miteinander essen … Wir reden später darüber.«
Als sie zu ihrer Schlafzimmertür kam, hörte sie ihren Vater: »Lass sie gehen, Nancy.«
Sie drehte sich noch einmal herum und rief über die Schulter zurück: »Ja, Mom, lass gut sein. Trink lieber noch einen Sekt-Orange.« Damit schlug sie die Schlafzimmertür krachend hinter sich zu.
Dagegen gelehnt, ließ sie den Tränen freien Lauf. Wie lange gab ihr Vater ihr schon die Schuld an dem Überfall auf sie? Ja, sie hatten sie wirklich gebeten, nicht spätabends in der Agentur zu bleiben, aber sie hatte auf Lawrences Geheiß an einer Präsentation für einen schwierigen Kunden gearbeitet. Hatte er also tatsächlich recht? War sie selbst verantwortlich? Hätte sie schneller rennen, lauter schreien, sich heftiger wehren sollen?
Ihre Hand wanderte zu dem Haarbüschel an ihrer Kopfseite, und sie zerrte nervös daran. Plötzlich fiel ihr ihr Maniküretäschchen auf dem Frisiertisch ins Auge. Sie stolperte hin und nahm die Schere heraus.
Ihm hat nicht gefallen, wie mein Haar aussieht, hm? Sie hob eine Haarsträhne an und schnitt die Spitze ab. Dann noch eine. Und noch eine. Bald war die Frisierkommode mit einer Masse kastanienbraunen Haars bedeckt.
Plötzlich flog die Schlafzimmertür auf. Beim Anblick von Jacksons entsetztem Spiegelbild verharrte ihre Hand.
»Was machst du denn nur?!«
5
Als sie Jacksons Schrei hörten, eilten Sams Vater und ihre Mutter durch den Flur herbei. Drei entsetzte Gesichter starrten sie aus dem Spiegel an. Der Mund ihres Vaters war nur noch ein Strich, und die Augen ihrer Mutter füllten sich mit Tränen, als sie leise losweinte. Jackson blickte einfach nur traurig.
Ihr Vater legte ihrer Mutter tröstend eine Hand auf die Schulter. »Nancy, ich kümmere mich darum. Setz du dich schon mal mit Jackson zum Brunch. Samantha und ich kommen gleich nach.« Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Sam. »Lass uns auf die Veranda gehen. Ich möchte mit dir reden.«
Sam legte die Schere in das Täschchen zurück und warf einen letzten Blick in den Spiegel. Ihr Haar stand jetzt überall stachelig vom Kopf ab. Tja, dachte sie trotzig , Schluss mit dem Haarpinsel.
Den Kopf hoch erhoben, humpelte sie an Jackson und ihrer Mutter vorbei und folgte ihrem Vater durch den Flur und das Wohnzimmer. Er öffnete die Verandatür und trat hinaus. Sie machte Anstalten, zu ihm zu gehen, verharrte dann aber.
Die Veranda, die sich die Hausseite entlangzog, ging auf den See hinaus. Durch die Tür erblickte Sam Birken, deren Blätter im leichten Wind zitterten, und feine Wölkchen, die über den blauen Himmel wanderten. In der Ferne hörte sie das Dröhnen eines Motorboots. Die warme Sonne lud sie ein, noch einen Schritt weiter zu gehen, an den Rand der Veranda zu treten und auf das klare Wasser hinunterzublicken, das im Licht schimmerte.
Sie zögerte. Ihr Blick schoss vom See zu den Bäumen und dem Unterholz. Dort draußen auf der Veranda wäre sie ungeschützt. Was, wenn jemand sich im Gebüsch versteckt hielt und sie beobachtete? Nur zu gern wäre sie zusammengeschrumpft, kleiner und kleiner geworden, bis sie für spähende Augen nicht mehr zu sehen gewesen wäre. Sie wischte sich die feuchten Handflächen an ihren Jeans ab und sah, dass ihr Vater sie stirnrunzelnd betrachtete. Sie machte den Rücken gerade und ging langsam zur Tür hinaus. Draußen zog sie einen Verandastuhl heran und setzte sich so rasch wie möglich hin.
Kopfschüttelnd rückte ihr Vater einen Stuhl zu ihr und setzte sich neben sie. Er lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. Kurze Zeit schwieg er, den Blick auf das andere Ufer gerichtet.
»Es ist reizend hier, oder?«, fragte er endlich, ihr seine Aufmerksamkeit zuwendend.
Sam nickte.
»Erholsam.«
Sie nickte erneut.
Er zog die Beine zu sich, beugte sich vor und berührte leicht ihr Knie. »Deswegen haben wir dieses Häuschen ausgesucht. Wir wollen dir helfen, Liebling.«
»Aber Dad, ich muss unabhängig sein. Ich muss selbst für mich
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