Wach nicht auf!: Roman (German Edition)
Talent ungenutzt bleibt.«
Sam stand auf. »Was wissen denn Sie darüber?«, maulte sie. »Sie leben hier mitten in der Pampa. Hier ist wohl kaum der Mittelpunkt des Kunst- und Kulturlebens, was auch immer Sie vorgeben mögen.«
Bestürzt sahen Anne und Fritz ihr nach, wie sie aus dem Raum hinkte und durch den Flur in ihr Schlafzimmer verschwand. Gleich darauf fiel die Tür krachend zu. »Habe ich irgendwas Falsches gesagt?«, fragte Fritz Anne betroffen.
Anne verdrehte die Augen, nahm Sams Teller vom Tisch und schabte mit ein paar zornigen Bewegungen das übrig gebliebene Essen in den Müll.
»Wer zum Teufel soll das wissen?«, antwortete sie, stellte den Teller auf die Küchentheke und sah Fritz an. »Sie hat schlimmere Stimmungsschwankungen als alle Patienten, mit denen ich je zu tun hatte.« Sie sah Richtung Schlafzimmer und senkte die Stimme: »Und aus irgendeinem Grund bringt jedes Gespräch über ihre Erfahrungen als Künstlerin sie auf die Palme.«
Fritz folgte Annes Blick und schüttelte den Kopf. »Das ist sehr schade. Sie hat wirklich Talent.« Er blickte auf seine Uhr. »Schauen Sie nur, wie spät es schon ist. Ich muss los.« Er verharrte in der Tür und lächelte Anne freundlich an. »Noch einmal danke, dass Sie Caleb erlauben, im Quartett mitzuspielen.«
Anne verengte die Augen zu Schlitzen und warf ihm einen kalten Blick zu. »Vergessen Sie nur nicht Ihr Versprechen, seine törichten Träume nicht noch zu ermutigen.«
»Anne«, erwiderte er voll Wohlwollen. »Nicht alle Träume scheitern.«
Sam war so wütend über Fritz’ Bemerkungen gewesen, dass Anne beschloss, sie erst mal ein bisschen Abstand gewinnen zu lassen. Anne brauchte ebenfalls ein wenig Zeit für sich selbst. Sie trank den Rest Kaffee, trat auf die Vorderveranda hinaus, zog sich einen Stuhl heran und legte ihre langen Beine aufs Geländer.
Es war ein Morgen der Offenbarungen gewesen. Die Zigarettenkippen bewiesen, dass Sam nicht geträumt hatte, und Anne war erleichtert. Ihr gefiel die Vorstellung nicht, dass jemand nachts um das Haus herumschlich, und der Gedanke, dass das wieder einmal einer von Teddy Brightons Streichen sein könnte, brachte ihr Blut in Wallung. Aber wenigstens hatte Sam etwas Reales gesehen. Anne wusste nicht, wie eine Lösung aussehen könnte. Sie hatten nicht genug Beweise, um zu den Brightons zu gehen und Teddy zu beschuldigen. Anne verdrehte die Augen bei dem Gedanken, wie ein solches Gespräch verlaufen würde. Irene Brighton würde der Schlag treffen, wenn sie glauben müsste, dass ihr Enkel als Blanche verkleidet um den See herumstreifte. Aber vielleicht hatte Fritz ja recht, und genau das war Teddys Absicht – seine Großmutter in Rage zu bringen.
Sie trank einen Schluck Kaffee und dachte über Sams Reaktion auf die Gemälde nach. Hatte Fritz recht? Waren Sams Träume gescheitert, und jetzt brachte schon deren Erwähnung sie in Wut? Falls ja, hatten Sam und sie selbst mehr gemein, als ihnen beiden bewusst gewesen war. Anne wusste, wie es sich anfühlte, wenn die eigenen, tiefsten Hoffnungen von der grausamen Realität zerstört wurden. Genau aus diesem Grund war sie ja so fest entschlossen, Caleb nicht in dieselbe Falle tappen zu lassen. Sie schüttelte den Kopf. Sie hätte nie geglaubt, dass sie überhaupt irgendetwas mit Samantha Moore gemein hatte.
Ihr Blick wanderte zu dem Strauch, der ihr kürzlich neben der Veranda aufgefallen war. Sie nahm die Beine herunter, stand auf und schaute übers Geländer. Irgendetwas war damit geschehen. Er sah jetzt so aus, als würde er sterben. Die vormals grünen Blätter waren inzwischen gelb und wellten sich an den Rändern braun. Fast so, als zöge die Pflanze sich in sich selbst zurück. Die Trauben von Knospen waren mit entrollten Blütenblättern abgefallen und übersäten jetzt den Boden unter dem Strauch. Anne schüttelte den Kopf. Am einen Tag noch frisch und lebendig, und am nächsten schon verwelkt und leblos. Sie streckte die Hand aus und pflückte eines der Blätter, dessen Rand unter ihren Fingern zerbröselte. Ein bisschen wie Sam. Sie war eine energische, erfolgreiche Frau gewesen, aber all das hatte innerhalb eines einzigen Tages geendet. Hoffentlich war Sam stark genug für ein Comeback.
Anne warf das Blatt weg, trat vom Geländer zurück und bemerkte jetzt auf dem Weg eine einsame Gestalt, die sie sofort erkannte.
Sie stellte die Kaffeetasse auf dem Geländer ab und eilte die Treppe hinunter. »Edward«, rief sie.
Er blieb stehen und
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