Wach nicht auf!: Roman (German Edition)
wandte sich ihr zu, schaute aber nicht auf das Haus.
Anne rannte los und holte ihn ein. »Hallo, wie geht es Ihnen?«, fragte sie ein wenig atemlos. »Ich hatte eigentlich vor, bei der Tankstelle vorbeizuschauen, aber ich arbeite derzeit mit einer neuen Patientin.«
Ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel, als er sich mit dem Rücken zum Haus stellte. »Das habe ich gehört.«
»Haben Sie mit Dr. Osgood gesprochen?«
Edward senkte den Kopf. »Nein, ich hatte ebenfalls viel zu tun. Dieses Wochenende ist ein Angelturnier, und da waren viele Kunden im Köderladen.«
Anne runzelte die Stirn. »Ich verstehe, aber Sie müssen sich auch um sich selbst kümmern«, ermahnte sie ihn.
Er hob den Kopf, und seine Augen bohrten sich in ihre. »Wozu?«
Jahre des Schmerzes und der Hoffnungslosigkeit schwangen in diesem einen Wort mit, und Anne blickte weg. Sie ertrug es nicht, die Verzweiflung in seinen Augen zu sehen, und sie würde sein Leiden nicht mindern, wenn sie mit irgendeinem Klischee antwortete. Sie konzentrierte sich auf ihre eigenen Gliedmaßen. Ihre Kraft hatte sie nie im Stich gelassen, und sie hatte sie immer für selbstverständlich ge halten. Wie musste es für Edward oder Sam sein, wenn ihnen das plötzlich weggenommen wurde? Wenn selbst die einfachste Aufgabe mit Schmerzen oder Versagen verbunden war? Es war unerträglich, darüber nachzudenken.
Als sie den Blick hob, sah sie, dass Edward zu einem Kardinal hinschaute, der in den Zweigen einer Kiefer saß. Das leuchtend rote Gefieder des Vogels schien vor dem dunklen Hintergrund der Kiefernnadeln geradezu zu glühen. Edwards zur Sonne gewandtes Gesicht entspannte sich, und sie erhaschte einen Blick auf den Mann, der er einmal gewesen war. Sie hatte die Geschichten gehört – der Superstar des Ortes, der junge Mann, der es einmal weit bringen würde –, bis ein Autounfall seine Zukunft ruiniert hatte. Seine Stirn spannte sich, und er rieb sich geistesabwesend den Arm.
»Kann Schmerz einen verrückt machen, Anne?«, fragte er leise und begegnete ihrem Blick.
»Edward …«
Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und setzte eine andere Miene auf. »Vergessen Sie das«, meinte er. »Sie haben recht – ich sollte mit Dr. Osgood sprechen. Wer weiß? Vielleicht gibt es ja inzwischen eine neue Behandlungsmethode.«
Anne atmete unwillkürlich auf, erleichtert, dass sie seine Frage nicht beantworten musste. »Genau«, rief sie aus.
»Ich muss zum Laden zurück.« Er ließ die Hand fallen und ging los. »Passen Sie auf sich auf.«
»Versprechen Sie, dass Sie Dr. Osgood anrufen?«, rief sie ihm nach.
Er nickte, den Arm fest an den Leib gedrückt.
»Sie sehen besorgt aus«, sagte Greg und stellte ein Glas Wein auf das Tischchen neben ihr.
Anne saß auf Gregs Veranda und blickte über den See hinaus. Sie war vorbeigekommen, um einmal eine Atempause zu haben. Sam hatte sich nicht davon abbringen lassen, sich den ganzen Tag in ihrem Schlafzimmer einzuschließen, und wie eindringlich Anne auch immer argumentiert hatte – sie hatte sich geweigert herauszukommen. Anne hatte versucht, verständnisvoll zu sein, aber ihre Geduld kannte Grenzen. Der Waffenstillstand, den sie geschlossen hatten, hatte nicht lange gehalten, und sie hatte das Haus frustriert und genervt verlassen. Sie hatte gehofft, dass der Besuch bei Greg und ein kleiner Schwatz ihre Anspannung ein wenig lindern würden, bevor sie zurückkehren und sich wieder mit Sam befassen musste.
»Wird es Ihnen eigentlich manchmal zu viel?«, fragte sie, den Kopf gegen die Stuhllehne gelegt.
»Was? Das Leben? Die Hunde? Der Kaffeepreis?«
Anne hob den Kopf und warf ihm einen schiefen Blick zu. »Das Leben.«
»Ach, das«, gab er zurück und klopfte sich ans Bein. Sein Golden Retriever Molly kam und ließ sich neben ihm fallen. »Sicher. Andauernd.«
»Und wie gehen Sie damit um?«
Er kippte seinen Scotch runter, beugte sich vor und streichelte Mollys wohlgeformten Kopf. »Ich bin ein ziemlich schlichter Typ. Meine Hunde und mein Saxophon helfen mir, das Leben nicht so schwer zu nehmen.« Er setzte sich zurück und streckte die Beine von sich. »Was macht Ihnen denn zu schaffen?«
»Wollen Sie eine Liste?«, fragte Anne mit hochgezogenen Augenbrauen. »Fangen wir mit Samantha an, fügen wir Caleb und die Rechnungen hinzu, und hören wir mit Edward Dunlap auf.«
»Edward?«
Anne nahm ihr Glas zur Hand und betrachtete seinen rubinroten Inhalt. »Ja, ich bin ihm heute zufällig über den Weg gelaufen. Es
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