Wachen! Wachen!
Sumpfdrachen wechselten bedeutungsvolle Blicke, bevor sie sich nacheinander auf dem Boden ausstreckten und die kleinen Tatzen über den Kopf hoben.
N obby schürzte die Lippen.
»Ja, nicht übel«, sagte er. »Jetzt scheint soweit alles in Ordnung zu sein. Welche Chancen bestehen dafür, die Ämpfindlichkeit eines Drachen zu treffen, wenn der Bogenschütze Ruß im Gesicht hat, die Zunge ausstreckt, auf einem Bein steht und das
Igellied
singt? Nun, was meinst du, Karotte?«
»Eins zu einer Million, schätze ich«, erwiderte Karotte sofort.
Colon starrte seine beiden Kollegen an.
»Hört mal zu, Jungs«, brummte er, »ihr macht mir doch nichts vor, oder?«
Karotte sah auf den Platz hinab.
»Ach du meine Güte!« entfuhr es ihm.
»Wasissn?« Colon drehte sich erschrocken um.
»Die Leute ketten eine Frau an den Felsen!«
Die Wächter blickten über den Dachrand. Auf dem Platz hatte sich eine große Menge eingefunden und beobachtete still die bleiche Gestalt, die zwischen fünf oder sechs Palastwächtern zappelte.
»Ich frage mich, wo sie den Felsen aufgetrieben haben«, murmelte Colon. »Hier besteht der Boden nur aus Lehm.«
»Tolles Frauenzimmer, wer auch immer sie sein mag«, sagte Nobby anerkennend, als sich einer der Wächter zusammenkrümmte und zu Boden sank. »Der Bursche weiß ein paar Wochen lang nicht mehr, wie er den Abend verbringen soll. Hat ein treffsicheres Knie, die Frau.«
»Kennen wir sie?« fragte Colon.
Karotte kniff die Augen zusammen und sah genauer hin.
»Lady Käsedick!« entfuhr es ihm verblüfft und entsetzt.
»Unmöglich!«
»Doch, er hat recht.« Nobby nickte. »Und sie trägt ein Nachthemd.«
»So weit ist es gekommen!« zischte Colon. »Eine anständige Frau kann nicht mehr durch die Stadt gehen, ohne gefressen zu werden! Na schön, ihr Mistkerle. Ihr… ihr seid, äh,
Erdkunde…«
»Feldwebel«, sagte Karotte gedehnt.
»Es heißt Geschichte«, warf Nobby ein. »Das wolltest du sagen. Geschichte. Es heißt ›Ihr seid Geschichte.‹«
»Meinetwegen!« schnappte Colon. »Ich zeig’s den Halunken…«
»Feldwebel!«
Nobby drehte sich ebenfalls um.
»O Mist!« krächzte er.
»Ich treffe bestimmt«, versprach Colon und zielte.
»Feldwebel!«
»Seid endlich still. Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn ihr dauernd…«
»Der Drache kommt, Feldwebel!«
D er Drache flog schneller.
Die Umrisse der Dächer von Ankh-Morpork verschwammen, als er über sie hinwegraste. Trübe Luft strich mit einem dumpfen Fauchen an den Schwingen entlang. Der Hals war weit nach vorn gestreckt, und die Zündflammen in den großen Nüstern glühten wie Nachbrenner. Ein lautes Rauschen begleitete den Flug des Ungetüms, und es klang nach einem beginnenden Sturm…
C olons Hände zitterten. Der Drache schien direkt auf ihn zuzuhalten, und er kam so unglaublich schnell näher…
»Jetzt ist es soweit!« rief Karotte und blickte mittwärts, für den Fall, daß die Götter ihre Pflicht vergessen hatten. Er sprach langsam und betonte jede einzelne Silbe, als er hinzufügte. »Die Chance ist eins zu einer Million, aber es könnte klappen!«
»Schieß endlich!« drängte Nobby.
»Immer mit der Ruhe, ich ziele auf die ämpfindliche Stelle«, erwiderte Colon mit vibrierender Stimme. »Seid unbesorgt, Jungs. Ich hab’s euch doch gesagt: Dies ist mein Glückspfeil. Ein guter Pfeil, dieser Pfeil, hatte ihn schon als junger Bursche, es würde euch sicher erstaunen zu erfahren, was ich damit getroffen habe, nein, macht euch keine Sorgen.«
Er zögerte, während der geflügelte Schrecken herankam.
»Äh, Karotte?« fragte Colon nervös.
»Ja, Feldwebel?«
»Hat dir dein Großvater erzählt, wie die ämpfindlichen Stellen aussehen?«
Und dann näherte sich der Drache nicht mehr. Er war
da,
sauste dicht über die Wächter hinweg, ein düsteres Mosaik aus glänzenden Schuppen und dem Zischen verdrängter Luft. Das Ungeheuer schien den ganzen Himmel auszufüllen.
Colon ließ die Bogensehne los.
Der Pfeil zuckte nach oben, dem Ziel entgegen.
M umm lief nicht mehr übers feuchte Pflaster, sondern taumelte nur noch. Er war außer Atem und kam zu spät.
Es muß ein Alptraum sein,
dachte er.
Der Held wird immer von irgend etwas aufgehalten, aber trotzdem ist er im letzten Augenblick zur Stelle. Doch diesmal liegt der letzte Augenblick schon fünf Minuten zurück.
Aber ich behaupte auch gar nicht, ein Held zu sein. Ich bin nicht mehr in Form, brauche etwas zu trinken, bekomme nur eine Handvoll
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