Wachgeküßt
übernehme mich schon nicht, wirklich.«
»Ja, du auch.«
»Mach ich, versprochen.«
»Okay. Bis bald. Mach’s gut.
»Ja, natürlich. Mach’s gut.«
»Mutter, jetzt heul doch nicht.«
»Ja, natürlich. Mach’s gut.«
»Mach ich, Mutter.«
»Schön.«
»Du auch.«
»Mach’s gut.«
»Ja, versprochen.«
»TSCHÜS!«
Ich knalle den Hörer mit solcher Wucht auf die Gabel, daß irgendwo im Innern des Plastikgehäuses ein Alarmglöckchen zu bimmeln anfängt.
Warum sind Eltern bloß so anstrengend?
Meine Mutter verkraftet meine Trennung von Max schlechter als ich. Dem Himmel sei Dank, daß sie weit genug weg wohnt, um nicht alle fünf Minuten hier vorbeischauen zu können. Ich glaube, ich könnte ihren Kummer nicht noch zusätzlich zu meinem ertragen. Kummer. Ja, ich gebe zu, daß ich dieses Wort benutzt habe, denn obwohl ich mich um meiner Mutter willen am Riemen gerissen habe, trauere ich noch immer wegen Max.
Ich bin an einem Punkt angelangt, an dem ich ihn schrecklich vermisse, obwohl ich diesen Bastard für alles, was er mir angetan hat, abgrundtief hasse. Ich weiß auch nicht, ob ich ihn oder nicht doch eher die vertraute Umgebung, mein Zuhause und die Dinge, die wir gemeinsam unternommen haben, vermisse. Schwer zu erklären, aber ich fühle mich hundsmiserabel und irgendwie einsam.
Aber wahrscheinlich ist das gut für meine Texte.
Man sagt ja, daß großes Leid auch große Werke hervorbringt.
Neben meiner Arbeit bei Sunday Best versuche ich gleichzeitig, den Roman des Jahrzehnts zu schreiben. Ich sollte eigentlich am PC sitzen, »meine Emotionen kanalisieren« und vierzig Kapitel rausklotzen, etwas Tiefgründiges und Wunderbares, das einem zu Herzen geht.
Ich persönlich bin allerdings der Ansicht, daß großes Leid nur den Absatz von Schokolade und Alkohol fördert.
Im Moment ist mir nur nach einem zumute: mich vor die
Glotze zu hocken und mir in Gesellschaft der größten Schachtel Konfekt, die es gibt, einer Flasche Wodka und einer Packung extra reißfester Kleenex irgend etwas Hirnloses reinzuziehen.
Aber ich muß zur Arbeit. Es ist Freitag morgen, zehn Uhr. Normalerweise deichsele ich es so, daß ich Freitag nicht ins Büro muß. Ich bin ziemlich stolz darauf, das Dreitagewochenende erfunden zu haben.
Heute aber ist der Tag, an dem unser Redaktionsleiter, Rodney Slater, das Zepter aus der Hand legt und es den Ratten überläßt, das Schiff allein zu segeln. Heute morgen, ungefähr gegen fünf Uhr fünfunddreißig, ist er ins Seniorenalter eingetreten und verläßt uns nun, um die ihm verbleibenden Jahre mit Golfspielen und dem Pflanzen von Petunien in seinem taschentuchgroßen Garten in Putney zu verbringen.
Deshalb veranstalten wir für ihn eine Abschiedsparty, und vor die Wahl gestellt, ob ich zu Hause bleibe, mich vollaufen lasse und mutterseelenallein Trübsal blase oder zur Arbeit gehe, mich vollaufen lasse und in Gesellschaft Trübsal blase, entscheide ich mich für letzteres.
Einst eine Legende in Joumalistenkreisen, trägt Rodney jetzt den Spitznamen »Mr. Finger weg!«, weil er nicht nur von allem, was nach Arbeit aussieht, die Finger läßt, sondern weil er außerdem die ziemlich üble Angewohnheit hat, jedes weibliche Hinterteil zu zwicken, zu kneifen oder zu tätscheln, das den Fehler begeht, sich in die Nähe seines Schreibtisches zu wagen.
Er ist ein alternder Lothario, der aussieht wie Bruder Tuck nach einer halbwegs erfolgreichen Diät. Er hat aalglatte, fettige Haare von der Sorte, die man in der ausdrücklichen Absicht auf einer Seite des Kopfes züchtet, um sie dann über den Schädel zu kämmen und die Platte kaschieren zu können. Außerdem hat er eine Brille mit braun getönten Gläsern, die so groß sind, daß sie seinen Kopf winzig klein erscheinen lassen, aber einen Schliff haben, der die Augen doppelt so groß aussehen läßt wie normal.
Während er selig auf die Pensionierung zusteuerte, hat Rodney die Zügel so sehr schleifen lassen, daß er jede Minute Gefahr lief, über sie zu stolpern und der Länge nach vor dem Vorstand hinzufallen. Doch er geht ja heute.
Diese lasche Arbeitsatmosphäre bedeutet, daß ich es normalerweise hinkriege, meinen Beitrag an einem Morgen zu verfassen, ihn Rodney für die obligatorischen zehn Sekunden vorzulegen, so als ob ich ein Blatt Papier durch den Kopierer jage, und mich dann den Rest der Woche damit beschäftige, dem hoffentlich gewaltigsten neuen Epos des Jahrzehnts einige tausend Wörter hinzuzufügen – mein
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