Wachgeküßt
um zu stillen. Ich kann die neugierigen, mitleidigen oder auch ablehnenden Blicke geradezu spüren, die auf mich gerichtet sind.
Nach einer umwerfenden Mahlzeit tun mir diese armen Leute leid, die sich in meiner Gegenwart so unbehaglich fühlen, und ich steuere die Bar an, nachdem ich meinen Oberschenkeln zuliebe auf den Nachtisch verzichtet habe. Wenigstens habe ich hier – zumindest in den Augen anderer Leute – einen Grund, allein zu sein: Ich will ganz offensichtlich jemanden aufreißen. Wenn sie wissen – oder zu wissen meinen -, warum ich allein bin, können sie wenigstens meinen Einzelgängerstatus akzeptieren. Früher habe ich die üblichen Krücken des einsamen, alten Trinkers zu Hilfe genommen, die Zeitung, ein gutes Buch oder unter erschwerten Umständen sogar meinen Laptop. Aber jetzt habe ich kein Bedürfnis nach solchen Stützen. Wenn ein Mann in eine Bar gehen und allein einen trinken kann, dann kann ich das in meiner neuen Rolle, in der ich geschlechtsspezifische Stereotypen einfach umdrehe, auch.
Trotz dieser neuen Entschlossenheit fühle ich mich etwas verunsichert, als ich meinen Hintern auf einen Barhocker schiebe und ein Glas Weißwein bestelle. Restaurants sind okay. Da habe ich ein Messer und eine Gabel und Essen, um damit herumzuspielen, und eine Karte, die ich mit professionellem Blick studieren kann. Bars sind ein bißchen schwieriger. Ich bin ja nicht wirklich in der Bar, um sie zu bewerten. Ich bin hier, um mich vollaufen zu lassen.
Ich habe Glück. Der Barmann, ein liebenswerter Schwuler, langweilt sich und freut sich über Gesellschaft. Er bewundert mein Kleid, während er mir das erste Glas Weißwein serviert. Innerhalb von fünf Minuten habe ich herausgefunden, daß sein Name Aidan lautet, daß er fünfundzwanzig ist, ursprünglich aus Edinburgh stammt, sich vor mehr als einem Jahr von seinem langjährigen Freund getrennt hat und nach hier unten kam, um all das hinter sich zu lassen. Daß er tagsüber als Grafikdesigner arbeitet, aber eigentlich Modeschöpfer ist, und daß er seit einigen Monaten abends in der Hotelbar arbeitet, um neue Leute und den Mann seiner Träume kennenzulernen.
»Und was machst du so, Sweetie?« stellt er schließlich die gefürchtete Frage.
»Ich bin Vertreterin«, lüge ich. Ich erzähle nie jemandem, was ich mache, wenn ich unterwegs und »an einer Story dran« bin. Sobald ich sage, daß ich eine Besprechung für eine mehr oder weniger landesweit erscheinende Zeitung schreibe, werde ich überaus zuvorkommend bedient. Ich will aber sehen, was die Regel ist.
»Das überrascht mich.« Er stellt ein glänzendes Bierglas ab und greift nach einem anderen. »Du siehst gar nicht so aus. Was verkaufst du denn?«
»Maschinen für Großwäschereien.« Eine weitere Lüge, obwohl ja die Zeitungen die Schmutzwäsche anderer Leute in der Öffentlichkeit waschen.
»Wirklich? Dann solltest du dich mal mit der Haushälterin unterhalten. Bei uns tut sich zur Zeit so einiges. Ich glaube, es werden für eine ganze Menge Dinge neue Lieferanten gesucht.«
Huch! Ich habe nicht die leiseste Ahnung von dem, was ich da angeblich verkaufe. Ich versuche, mich an ein paar Reinigungsprodukte zu erinnern, aber alles, was mir einfällt, sind Jiff, die WC-Ente und Meister Proper. Ich muß mir mal etwas Leichteres ausdenken, sonst verrate ich mich noch selbst.
»Mmmm. Danke...« murmele ich unverbindlich, und mein Gehirn brummt angestrengt, während ich krampfhaft nach einem anderen Gesprächsthema suche. »Wie war denn das Wetter hier so in letzter Zeit?« frage ich ganz platt.
Glücklicherweise rettet mich die Ankunft eines etwa achtzehn Jahre altes Mädchens. Ihre langen, weißblonden Haare fallen offen über den Rücken, und ihr Gesicht gleicht einem gereizten Frettchen. Sie soll Aidan für den Rest des Abends aushelfen. Offensichtlich kommen neben den Hotelgästen auch Einheimische in die Hotelbar, die sich im Laufe unseres Gesprächs allmählich gefüllt hat. Frettchengesicht hat anscheinend auch ein Frettchenhirn, weshalb man ihr ungefähr achtmal hintereinander erklären muß, wie sie die elektronische Kasse zu bedienen hat. Als Aidan schließlich zu mir zurückkehrt, ist er so überdreht wie ein überstrapaziertes Spielzeug, das man aufziehen kann. Er will nur noch grollen. Deshalb wird mein angeblicher Beruf glücklicherweise nicht mehr erwähnt.
»Was fürrr eine Platzverrrschwendung«, stöhnt er mit seinem schönen, gerollten Schotten-R, »aber die ist so hohl im
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