Wachsam
bleibe nie in dem erstbesten Lokal hängen.
»Er will sich in einen Abend hineinarbeiten«, sagte sie.
Shamus wollte fahren, aber Cassidy sagte, leider sei der Wagen nur auf ihn selber versichert, was nicht ganz wahr, aber eine verständige Vorsichtsmaßnahme war, also setzte Shamus sich auf den Vordersitz neben Cassidy, und sooft Cassidy schaltete, bediente Shamus für ihn die Kupplung, so daß er als Kopilot fungierte. ›Weib-Austauschen‹ nannte es Shamus. Beim ersten Versuch gerieten sie in den Rückwärtsgang, aber Cassidy konnte gerade noch selber den Fuß auf das Kupplungspedal setzen und einen Getriebeschaden vermeiden. Shamus hatte kein Gefühl für Fahren, aber er genoß es sehr.
»Himmel«, sagte er immer wieder, »das ist das wahre Leben, he, Helen, kannst du mich da hinten hören? … Zum Teufel mit der Schreiberei, von Stund an bin ich der dicke fette rassereine Bourgeois … Haben Sie denn Ihr Scheckbuch dabei, Cassidy? … He, wo sind die Zigarren?«
Das alles in einem Nonstop-Monolog atemloser Bewunderung, so daß Cassidy sich fragte, wie ein Mann, den so deutlich nach Eigentum gelüstete, je den Mut aufgebracht hatte, darauf zu verzichten.
Und tatsächlich waren sie noch keine zehn Minuten im Lokal, als Shamus nach der Tür strebte.
»Diese Kneipe stinkt«, sagte er sehr lautstark.
»Stinkt entschieden«, sekundierte Helen.
»Der Wirt stinkt ebenfalls«, sagte Shamus, und ein paar Köpfe wandten sich erstaunt nach ihnen um.
»Der Wirt ist ein Prolet«, sekundierte Helen.
»Herr Wirt, Sie sind ein Hinterweltler und Ziegenficker, und Sie kommen aus Gerrards Cross. Gute Nacht.«
»Halten Sie ihn nur nie zurück«, sagte Helen. Sie gingen zum Wagen voraus, in der Hoffnung, daß Shamus folgen würde. »Versprechen Sie’s.«
»Käme mir nie in den Sinn«, versicherte Cassidy. »Wäre ja geradezu ein Verbrechen.«
»Sie können sich gut in andere einfühlen, nicht wahr?« sagte Helen. »Ich beobachte Sie schon die ganze Zeit dabei.«
»Warum Gerrards Cross? « fragte Cassidy, der diesen Ort nur als eine höchst komfortable halb ländliche Schlafstadt an der westlichen Bannmeile von Groß-London kannte.
»Von daher kommen die übelsten Proleten«, sagte sie. »Er war dort, er weiß es.«
»Chippenham«, rief Shamus hinter ihnen.
Am Bahnhofsbüfett von Chippenham tranken sie wiederum Whisky. Shamus hatte eine Leidenschaft für Bahnhöfe: Wie Helen sagte, betrachtete er das ganze Leben als Ankunft und Aufbruch, als Reisen zu nicht genannten Zielen.
»Wir müssen in Bewegung bleiben«, sagte sie. »Ich meine, finden Sie nicht auch, Cassidy?«
»Aber ja«, sagte Cassidy und dachte – der Analytiker in ihm dachte –, ja, das ist das Aufregende an den beiden, dieses gemeinsame Verlangen nach Abwechslung.
»Die gewöhnlichen Stunden reichen für ihn nicht aus«, sagte Helen. »Er muß noch die Nacht dazu haben.«
»Ich weiß«, sagte Cassidy. »Ich kann es nachfühlen.«
Der Automat für Bahnsteigkarten funktionierte nicht, aber der Schaffner war Schotte und ließ sie umsonst durch, weil Shamus sagte, er komme von der Insel Skye, und Talisker sei der beste Whisky auf der Welt und er habe einen Freund namens Flaherty, der möglicherweise der liebe Gott sei. Shamus taufte den Schaffner Alastair und nahm ihn mit ans Büfett.
»Er ist völlig klassenlos«, erklärte Helen, während Shamus und Alastair am anderen Ende der Theke in reichen schottischen Lauten über die Gemeinsamkeiten ihrer Berufe diskutierten. »Er ist wirklich eine Art Kommunist. Jude.«
»Fantastisch«, sagte Cassidy. »Vermutlich prädestiniert ihn das zum Schriftsteller.«
»Aber Sie sind ähnlich, nicht wahr?« sagte Helen. »Tief drinnen? Müssen Sie nicht mit Ihren Arbeitern und dergleichen auskommen? Die lassen sich doch bestimmt von keinem was gefallen.«
»Daran habe ich noch nicht gedacht«, sagte Cassidy.
Der Zug fuhr ein, während sie noch tranken, nächste Station Bath, und plötzlich standen sie alle drei in einem Abteil erster Klasse und winkten Alastair durchs Fenster zu.
»Leb wohl, Alastair, wiedersehen, lieber Gott, schaut ihn an«, beschwor Helen sie. »Dieses Gesicht im Lampenschein, unsterblich.«
»Fantastisch«, pflichtete Cassidy bei.
»Armer Teufel«, sagte Shamus.
»Weißt du«, sagte Helen später, als sie das Fenster geschlossen hatten, »Cassidy hat die Gabe der Wahrnehmung .« Sie nahm die Arme zu Hilfe, um ihre langen Beine auf die Polster zu schwingen. »Er hat ein Auge für die
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