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Wachsam

Wachsam

Titel: Wachsam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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waren, hatte sie die Abendstunden geliebt, aber nun machten die Gardinen den Abend zur frühen Nacht, und das Dämmerlicht blieb draußen. Das Haus stand im Dunkeln, eine dunkelgrüne Säule, sechs Stockwerke hoch, eine Ecke ragte wie ein Schiffsschnabel in den Gehsteig und war in Lenkstangenhöhe abgestoßen, wo die Lieferjungen vorbeifuhren. Das Gerüst bemerkte er kaum noch, so lange stand es schon. Er sah das Haus wie ein Gesicht unter seinem Haar, es veränderte sich dort, wo die Maurer es veränderten, indem sie die hölzernen Fensterstürze durch handbehauenen Stein ersetzten.
    Wir machen es einmalig schön . Wir machen es genauso , wie es im achtzehnten Jahrhundert gewesen wäre .
    Und falls du dich doch entschließen solltest , in den Dienst der Kirche zu treten , sagte Sandra, überlassen wir es für ein Ei und ein Butterbrot einem Jugendklub .
    Ja , sagte Cassidy, das tun wir . Jawoll .
    Er schlüpfte unter dem Gerüst hindurch, schloß die Haustür auf und ging hinein. Kleiderbündel für Oxfam in der Diele, ein Rettungsboot aus Plastik mit einem Schlitz für Pennys.
    Musik.
    Sie übte einen schlichten Hymnus; nur die Melodie, kein Versuch zu Wohlklang.
    Der Tag , Herr , den Du gabst , hat sich geneigt .
    Er blickte sich nach Heathers Mantel um. Fort.
    Herrje, dachte er; kein einziger Zeuge, kein Schiedsrichter. Sie werden einen Monat brauchen, bis sie unsere Leichen finden.
    »Hei«, rief er treppauf.
    Die Musik tönte weiter.
     
    Sandra hatte ihr eigenes Wohnzimmer, und der Flügel war zu groß dafür. Er stand zwischen ihrer Puppenküche und einer Kiste mit Nippes, die sie bei Sothebys gekauft und noch nicht ausgepackt hatte, und es sah aus, als hätte man es von oben heruntergelassen wie ein Rettungsboot, und niemand wußte, wohin man damit segeln sollte. Sie saß sehr aufrecht davor, bemannte es allein, ein SOS-Licht brannte, und das Metronom morste ein Signal. An seinem Bug, dort, wo es endlich einlief, ragte ein Stapel staubiger Zirkulare über Biafra. Unter den Worten ›Tatsachen über Biafra‹ schrie lautlos ein entsetzlich abgezehrtes schwarzes Baby in den Kristall-Leuchter. Sandra trug einen Hausmantel, und ihre Mutter hatte ihr das Haar so hoch gesteckt, als wolle sie sagen, heute abend wird es ohnehin nicht mehr gebraucht. Hinter ihr in der Wand klaffte ein Loch, ausgezackt wie der Einschlag einer Granate. Bauplanen bedeckten den Boden, und eine sehr große Afghanenhündin beobachtete sie aus den Tiefen eines Queen-Anne-Lehnstuhles.
    »Hei«, sagte er nochmals. »Was gibt’s?«
    Ihre Konzentration vertiefte sich noch. Sie war eine schlanke junge Frau mit einem harten Körper, Männeraugen, und wie das Haus machte sie einen wehmütigen und unbewohnten Eindruck, der den Eindringling abschreckte und zugleich die eigene Einsamkeit beklagte. Irgend etwas war hier gepflanzt worden und verdorrt. Als er sie betrachtete und auf das Losbrechen des Gewitters wartete, hatte Cassidy das unbehagliche Gefühl, daß dieses Etwas er selber sei. Jahre hindurch hatte er versucht, das zu wollen, was sie wollte, und keinen äußeren Grund gefunden, etwas anderes zu wollen. Doch in all diesen Jahren hatte er nie ganz herausgefunden, was sie wollte. Unlängst hatte sie verschiedene kleine Anschaffungen getätigt, aber nicht für sich selber, sondern um sie an ihre Kinder weiterzugeben, ehe sie sterben würde. Dennoch waren die Kinder ihr lästig, und sie behandelte sie oft unfreundlich mit kleinen Sticheleien, wie Kinder sie einander versetzen.
    Das Dunkel sinkt auf Dein Geheiß .
    »Du machst Fortschritte«, sagte Cassidy gutwillig. »Wer gibt dir Unterricht?«
    »Niemand«, sagte sie.
    »Wie war der Umsatz?«
    »Umsatz?«
    »Drüben in der Anstalt. Viel Zulauf?«
    »Du nennst das Umsatz?« fragte sie.
    Der Tag , Herr , den Du gabst , hat sich geneigt .
    »Niemand ist uns zugelaufen«, sagte sie.
    »Vielleicht sind sie geheilt«, schlug er vor und paßte seine Stimme dem langsamen Rhythmus der Musik an.
    Das Dunkel sinkt auf Dein Geheiß .
    »Nein, sie sind draußen. Irgendwo.«
    Das Metronom tickte langsamer und stand still.
    »Soll ich es dir aufziehen?«
    »Nein, danke«, sagte sie.
    Der Tag , Herr , den Du gabst , hat sich geneigt .
    Ungeschickt – er wollte den Afghanen nicht stören – plazierte er zwei Buchstaben auf den Lehnstuhl. Er war sehr unbequem, und die Original-Stickerei piekte seine zarte Haut.
    »Was hast du denn gemacht?«
    »Babysitter.«
    »Oh. Bei wem?«
    Das Dunkel sinkt auf Dein

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