Wächter des Elfenhains (German Edition)
Äpfel schließlich von allein in den Schoß fielen.
In jenem winzigen Augenblick, in dem sich die Seele des ungeborenen Kindes mit dem Fleisch verband, das einmal sein Körper werden sollte, wo der stählerne Käfig von Raum und Zeit für einen flüchtigen, unwirklichen Moment seine Festigkeit verlor und Geist, Materie und Magie so leicht und mühelos ineinanderflossen wie Wolken, die an einem warmen Sommertag über den Himmel zogen, hatte er zugeschlagen. Ein winziger Schnitt im immateriellen Gewebe der Quelle genügte, um die zarte Knospe von Andions Seele in die entstandene Wunde hineinzupressen und dünne, fragile Wurzeln darin zu verankern. Jede Gier, jedes übermäßige Forcieren dieses Vorgangs hätte das sofortige Scheitern bedeutet, hätte die tastenden Wurzeln auf der Stelle absterben und die Tore zu den Schatzkammern der Quelle für die nächsten Jahrzehnte erneut zufallen lassen.
Doch offensichtlich war das nicht geschehen. Sein heimliches Eindringen war unentdeckt geblieben, und abgesehen von Ionosens ärgerlichem Übereifer schien es, als sei tatsächlich alles genau nach Plan verlaufen. Andion war herangewachsen, und mit jedem Jahr, das verstrich, hatten sich die Wurzeln seiner Seele tiefer ins Herz der Quelle hineingebohrt. Und wie ein Fluss, dessen Fluten das Erdreich an seinen Ufern mit sich fortspülen, war die Verbindung breiter und kraftvoller geworden – und hatte schließlich damit begonnen, einen Sog zu entwickeln, der all die kostbaren Edelsteine und Diamanten, die seit Äonen von Jahren sicher in ihrer ätherischen Zitadelle verborgen gewesen waren, mit nach draußen geschwemmt hatte. Tropfen für Tropfen, in einer langsamen, stetigen Infusion, waren die Seelen und die Macht der Elfen auf Andion übergegangen, unbemerkt von dem Jungen und, wie es schien, selbst von dem großen Elfenpropheten.
Das war die eigentliche Gefahr gewesen, der Unsicherheitsfaktor, den Ionosen durch sein Eingreifen ins Spiel gebracht hatte: Dadurch, dass er seinen Sohn nicht mehr unter Beobachtung hatte, hatte er auch die Kontrolle über die Magie verloren, die Tag für Tag, Jahr für Jahr wie ein gewaltiger, unsichtbarer Muskel in ihm anschwoll – und ihm in einem offenen Kampf durchaus Probleme hätte bereiten können. Sein ursprünglicher Plan hatte niemals vorgesehen, Andion so lange unbehelligt in der Menschenwelt leben zu lassen. Hätte das Ausmaß seiner magischen Kräfte eine gewisse Grenze überschritten gehabt, hätte er ungestört und in aller Ruhe die zweite Phase seines Vorhabens in Angriff nehmen können, und sein endgültiger Griff nach der Macht wäre niemals zu einem derartigen Roulettespiel geworden.
Aber wie es nun schien, hatte ihm Ionosen mit seiner kleinen Posse sogar unabsichtlich einen Gefallen getan. Hätte er ihn nicht zu einer Änderung seiner Vorgehensweise gezwungen, der Höhepunkt ihres Dramas wäre um einiges blutiger – und mit entschieden weniger Eleganz – zur Aufführung gelangt.
Ogaire hob den Kopf, als die ersten Ausläufer einer Präsenz über seinen Geist strichen, die sich schnell seinem Standort näherte. Er tauchte tiefer in die Schatten, verstärkte noch einmal seinen Unsichtbarkeitszauber und glitt lautlos näher an das Tor heran. Es war soweit. Sein Sohn war endlich gekommen.
Überrascht runzelte er die Stirn, lauschte, doch es bestand kein Zweifel: Andion war allein. Seine Mutter hatte ihn nicht in den Park begleitet. Das war bemerkenswert, andererseits jedoch für den weiteren Ablauf der Ereignisse gänzlich ohne Belang. Von ungleich größerer Bedeutung war, dass er mit der Beseitigung des Elfenpropheten und seiner beiden lächerlichen Helfer offensichtlich genau ins Schwarze getroffen hatte. Noch immer war die Seele Andions ein düsteres Chaos aus Trauer, Schmerz und Verzweiflung, unfähig, irgendeinen anderen Gedanken hervorzubringen als den, sich kopflos in den Nebel zu stürzen und für die nächsten 20 Jahre schlotternd hinter dem erstbesten Stein zusammenzukauern. Im Augenblick würde er niemals in der Lage sein, einen schnellen und entschlossenen Angriff zurückzuschlagen, noch wäre er imstande, in einem Akt blindwütiger Raserei vielleicht unabsichtlich die Barrieren zu dem gewaltigen Magiereservoir niederzureißen, das aller Voraussicht nach in den Tiefen seiner Seele schlummerte.
Aber selbst wenn es ihm wider Erwarten dennoch gelungen wäre, die Anwesenheit eines Tarnzaubers wahrzunehmen und seinen dahinter verborgenen Feind ans Licht zu zerren,
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