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Wächter des Elfenhains (German Edition)

Wächter des Elfenhains (German Edition)

Titel: Wächter des Elfenhains (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gavénis
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hätte sein Wille doch durch die Verluste, die er heute erlitten hatte, so viel Stärke und innere Festigkeit besessen wie ein Stück altes Pergament, das nach tausend Jahren in der Dunkelheit einer Grabkammer zum ersten Mal wieder der Luft ausgesetzt worden war: Eine flüchtige Berührung, und es würde zu Staub zerfallen. Vermutlich hätte Andion ihn nicht einmal dann bemerkt, wenn er ohne jeglichen schützenden Zauber direkt vor seinen Augen an einem Baumstamm gelehnt und ein blutverschmiertes Schild mit der Aufschrift „Achtung, Gefahr!“ vor sich in die Höhe gehalten hätte, so wenig Aufmerksamkeit hatte er für das, was um ihn herum geschah.
    Ogaire ließ ihn bis auf drei Schritte an den Zugang zum Hain herankommen, dann schlug er zu. Sein Wille, in langen Jahrhunderten gestählt, traf Andion wie ein Gewehrschuss in den Rücken, toste wie ein Feuersturm durch seine Seele und zerschmetterte die kümmerlichen Reste instinktiven Widerstands, die sich ihm panisch entgegenzustellen versuchten, wie dünnes Glas. Der Junge brach auf der Stelle zusammen.
    Ogaire ließ ihm keine Zeit, seine Gegenwehr neu zu formieren. Mit einem schnellen Schritt trat er auf ihn zu, packte ihn am Kragen und hob ihn mühelos vom Boden hoch. Andions Augenlider flatterten, und ein gequältes Stöhnen entrang sich seiner Kehle, als er ihm eine Hand fest auf die Stirn presste und seinen Geist wie eine Messerklinge in ihn hineintrieb. Tiefer und tiefer stieß er hinab, wühlte sich rücksichtslos durch die Schichten von Andions Bewusstsein, zermalmte alle Schutzmauern und Barrikaden, bis der nackte, zitternde Kern seiner Seele vor ihm lag.
    Und dann, von einer Sekunde auf die andere, wie Sonnenschein, der plötzlich durch eine finstere Wolkendecke bricht, erblickte er es: ein gewaltiges, schimmerndes Meer aus Magie, ein endloser, wogender Ozean, angefüllt mit der uralten Essenz und Macht tausender und abertausender Elfenseelen. Nun erst wusste er mit letzter, triumphierender Gewissheit, dass sein Zauber tatsächlich erfolgreich gewesen war. Mit derselben unumstößlichen Gewissheit spürte er jedoch auch, dass diese ungeheuerliche, sinnverwirrende Ansammlung von magischer Energie und Zauberkraft nur ein winziger Teil dessen war, was sich noch immer im Inneren der Quelle befand. Selbst 17 Jahre steter Aderlass hatten nicht ausgereicht, um mehr als die Schaumkronen von den gewaltigen Wellenbergen zu schöpfen, die so lange schon machtlos gegen die Gitterstäbe ihres ätherischen Gefängnisses brandeten, und auch tausend weitere Jahre würden daran nicht viel ändern.
    Doch das war auch niemals sein Plan gewesen. Andions Zeugung und sein Aufenthalt in der Menschenwelt hatten lediglich dazu dienen sollen, einen Fuß in die Tür zu bekommen. Dabei hatte er von Anfang an gewusst, dass er in der Menschenwelt selbst unter den besten Bedingungen diese Tür niemals mehr als einen kleinen Spalt hätte aufstoßen können. Allein die Verbindung zwischen seinem Sohn und dem Reservoir der Elfenseelen im Zentrum der Quelle herzustellen, hatte ihn bis an die Grenze seiner Möglichkeiten herangeführt, und auch wenn diese Nabelschnur seit Andions Geburt ganz ohne Zweifel noch einmal beträchtlich an Umfang zugelegt hatte, so sorgte doch der Abgrund zwischen den beiden Welten wirkungsvoll dafür, dass ihr Wachstum in vermutlich gar nicht mehr so weit entfernter Zukunft ganz von selbst an sein natürliches Ende gelangt wäre. Um den gesamten Inhalt der Quelle in Andions Seele zu leiten, musste er in den Hain; nur in der Elfenwelt würde keinerlei störender Einfluss mehr der Vollendung seiner Pläne im Wege stehen. Einzig aus diesem Grund durfte Andion an diesem Tag noch weiterleben.
    Sein Geist tauchte hinein in die unvorstellbaren magischen Fluten, die sich vor ihm ausbreiteten, und er begann zu trinken. Ein Beben lief über Andions schlaffe Gestalt, dann fing er in seinem unbarmherzigen Griff an zu zucken wie ein Hundewelpe, dem ein Starkstromkabel in den Leib gerammt worden war. Ogaire presste seine Hand noch fester auf seine Stirn, während er spürte, wie die Macht der Elfenseelen durch seine Adern strömte, ihn berauschte wie starker, unendlich süßer Wein. Er konnte fühlen, wie sie in jede Zelle seines Körpers drang, wie sich die Härchen auf seinen Armen aufrichteten, als die Luft um ihn herum vor reiner, magischer Energie zu knistern begann.
    Andions Muskeln verkrampften sich, und ein dünner Blutfaden sickerte aus einem Mundwinkel und rann

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