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Wächter des Elfenhains (German Edition)

Wächter des Elfenhains (German Edition)

Titel: Wächter des Elfenhains (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gavénis
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während sie das taten, würde die Verbindung zwischen ihm und der Quelle, die draußen in der Menschenwelt wenig mehr als ein dünnes, armseliges Rinnsal gewesen war, zu einem gewaltigen, alles verschlingenden Mahlstrom anschwellen, und ohne dass er selbst davon auch nur das geringste ahnte, würde seine bloße Anwesenheit im Hain genügen, um das Schicksal der Quelle endgültig zu besiegeln. Schließlich, sobald Andion wieder vollständig bei Kräften war, würde er zu ihm zurückkehren – und sich den Rest der Macht des Elfenvolkes holen.

17. Kapitel

    Die warme Sommerluft strich sanft über sein Gesicht, fuhr behutsam wie eine tröstende Berührung durch sein Haar, doch Neanden beachtete es nicht. Mit versteinerter Miene und geballten Fäusten stand er da, auf der kleinen Lichtung, in deren Zentrum der bleiche Leichnam seines Vaters aufgebahrt lag. Neanden hatte das Blut und den Schmutz von dem zerschmetterten Körper gewaschen und ihn in ein weißes, fließendes Gewand gehüllt, hatte in kaltem, düsterem Schweigen seinen letzten Dienst an dem Toten erfüllt, ehe er ihn behutsam auf die Arme genommen und in einer langsamen, stummen Prozession hierher getragen hatte, an diesen stillen, einsamen Ort, umgeben von den mächtigen Eichen und Tannen des Waldes, die Ionosen immer so sehr geliebt hatte. Mit einer Zärtlichkeit, die er nach all den Jahren nicht mehr geglaubt hatte, in sich zu tragen, hatte er den reglosen Körper ins weiche Gras gebettet und mit einem letzten, wehmütigen Kuss auf seine kalten, geschlossenen Lider Abschied genommen.
    Seitdem harrte er auf der Lichtung aus, starrte mit brennenden Augen auf das blasse, von Ogaires mörderischer Magie zerschundene Gesicht seines Vaters, das im Tod beinahe friedlich wirkte. Drei Tage würde die Totenwache dauern, drei Tage lang würde der Leichnam Ionosens in seinem Bett aus Gräsern und Blumen aufgebahrt bleiben, bevor das endgültige Begräbnis stattfand. Es war eine Zeit der Trauer und der Besinnung, in der die Elfen in stiller Einkehr des Verstorbenen und seines Lebens gedachten, jenes lieb gewonnenen Freundes und Weggefährten, der oft viele Jahrhunderte oder Jahrtausende lang ein Teil ihrer Gemeinschaft gewesen und nun für immer aus ihrer Mitte gerissen worden war. Zumindest hätte es so sein sollen.
    Neanden ballte seine Fäuste noch fester zusammen, und seine Zähne mahlten grimmig aufeinander. Niemals war die Seele eines Elfenpropheten ohne den Segen aller zur Quelle zurückgekehrt, niemals war eine solche Totenwache etwas anderes gewesen als ein Augenblick tiefsten Kummers und unendlicher Dankbarkeit, ein Moment der Achtung und des Respekts für jenen, dessen Weisheit selbst in der tiefsten Dunkelheit stets einen Weg zurück ins Licht gewiesen hatte. Die Luft um ihn herum hätte von den aufgewühlten Gefühlen und dem Gram eines ganzen Volkes vibrieren müssen, hätte getränkt sein sollen mit einem Meer aus geweinten und ungeweinten Tränen, die den Propheten auf seiner letzten Reise begleiteten.
    Doch die kleine Lichtung war beinahe leer. Lediglich seine Mutter und Maifell knieten neben Ionosens Leichnam im taufeuchten Gras. Neanden hörte seine Mutter leise weinen. Er konnte sehen, wie ihre Schultern zuckten, konnte den Schmerz in ihrer Seele wie seinen eigenen spüren, und doch blieb er reglos einen Meter hinter ihr stehen. Er vermochte weder ihr noch sich selbst Trost zu spenden.
    Ein Beben durchlief seine verkrampften Muskeln, und sein Magen zog sich vor Qual und ohnmächtiger Wut zu einem harten, pochenden Klumpen zusammen, als Maifell leise zu singen begann, eine bittersüße Totenklage, die üblicherweise in einem vielstimmigen Chor hätte erklingen müssen. In ihrem Herzen spürte er ebenso viel Zorn wie in seinem eigenen, Zorn über das Fernbleiben der anderen, über ihre Selbstgerechtigkeit und Arroganz, in deren eisige Ablehnung nicht einmal der Tod einen Hauch von Wärme zu bringen vermochte. Das, wenn auch nur das, hatten sie gemeinsam.
    Zu anderen Zeiten wäre er Maifell dankbar gewesen, dass sie sich so mutig auf seine Seite gestellt hatte und wieder einmal tat, was sie, ungeachtet dessen, was der Rest der Gemeinschaft darüber dachte, als das Richtige empfand, doch er hatte nicht die Kraft dazu. Zu viel war geschehen, zu viele Träume und Hoffnungen an diesem düsteren Tag für immer im Nichts verweht. Alle Gewissheiten, an die er sich in den vergangenen 90 Jahren geklammert hatte, waren im Feuersturm von Ogaires tödlichem

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