Wächter des Elfenhains (German Edition)
Willen hinweggeschmolzen, und nun stand er hier, neben dem hingeschlachteten Körper seines Vaters, und starrte in die kalte Asche seines Lebens, blickte hilflos auf die armseligen Überreste dessen, was von der schimmernden Rüstung seines Stolzes und seines kindlichen Egoismus nach den schrecklichen Ereignissen des heutigen Morgens noch übrig war.
Er sah, wie Maifell den Kopf hob und sich, ohne ihren Gesang zu unterbrechen, zu ihm umwandte. Sie schaute ihn an, und ihre wunderschönen blauen Augen wurden dunkel vor Mitgefühl und Kummer. Neanden wandte rasch den Blick von ihr ab. Er presste die Lippen zu einem dünnen, harten Strich zusammen, floh vor ihrem Mitleid in die kalte, trostlose Einöde seiner Seele, dorthin, wo selbst Maifell ihm nicht mehr zu folgen vermochte. Sie hatte seine Liebe nicht gewollt, als sein Vater noch am Leben gewesen war. Nun sollte sie auch seinen Schmerz nicht bekommen.
Er schloss kurz die Augen, atmete tief durch, um die Tränen zurückzudrängen, die trotz seiner verzweifelten Gegenwehr hinter seinen Lidern zu brennen begannen – und zuckte zusammen, als er die Anwesenheit einer Präsenz spürte, die plötzlich zwischen den Bäumen des Waldes aufgetaucht war. Andion! Er musste es sein. Es gab keine andere Möglichkeit.
Mit einem wilden Knurren stürzte Neanden von der Lichtung, ehe seine Mutter und Maifell noch richtig begriffen, was geschehen war. Sein Herz wummerte plötzlich mit der doppelten Geschwindigkeit gegen seine Rippen, und seine Gedanken überschlugen sich. Nun erst merkte er, dass ein Teil von ihm die ganze Zeit genau auf diesen Moment gewartet hatte, denn natürlich war klar gewesen, dass Andion nach Ionosens Tod gar keine andere Wahl gehabt hatte, als schließlich in den Hain zurückzukehren. Und dieses Mal würde er ihm antworten! Dieses Mal würde er sich nicht mit ein paar dahingestammelten Ausflüchten zufriedengeben, so wie bei ihrer letzten Begegnung. Doch da hatte er zu sehr unter Schock gestanden, war zu sehr von seinem Schmerz und seiner Trauer überwältigt gewesen, um noch klar denken zu können, ansonsten hätte er Andion niemals so einfach gehen lassen. Sein Vater hatte ohne zu zögern sein Leben für ihn gegeben, und er wollte verdammt sein, wenn er den Grund dafür nicht aus ihm herausbekam – auf die eine oder andere Weise. Der Mistkerl konnte einfach nicht so ahnungslos sein, wie er tat, immerhin hatte er die gesamten 17 Jahre seiner jämmerlichen Existenz in Ionosens Nähe verbracht. Selbst wenn sein Vater niemals offen mit ihm über seine Motive und sein Wissen gesprochen hatte – was durchaus denkbar war -, war es dennoch mehr als wahrscheinlich, dass der Bastard im Lauf der Zeit irgendetwas aufgeschnappt hatte, irgendeine achtlos dahingeworfene Bemerkung oder Andeutung vielleicht, deren wirklicher Sinn sich ihm möglicherweise erst durch die Ereignisse der letzten Stunden vollständig erschloss. Mit dem richtigen Maß an Zuspruch, dessen war er gewiss, würde er mit Sicherheit den einen oder anderen Schatz aus dem brackigen Schlick von Andions Erinnerungen ans Tageslicht holen.
Neanden fletschte die Zähne und stürmte grimmig weiter voran, jagte lautlos und schnell wie ein Schatten der Lichtung entgegen, auf der er die Gegenwart des Eindringlings noch immer spüren konnte. Doch als er schließlich aus dem dichten Unterholz auf die sonnenbeschienene Wiese stürmte, stoppte sein atemloser Lauf abrupt, und seine Augen verengten sich misstrauisch. Sein Blick flog wild von links nach rechts, suchte nach dem verhassten Menschenbastard, der es wieder einmal gewagt hatte, eigenmächtig die Grenze zum Hain zu überschreiten, aber sein lodernder Zorn fand kein Ziel. Die Lichtung wirkte verlassen und leer, ließ mit nichts darauf schließen, dass an dieser Stelle nur wenige Momente zuvor Ogaires verdammenswerte Brut aus den Nebeln zwischen den Welten getreten war.
Erst beim zweiten Hinsehen entdeckte er die Gestalt, die am gegenüberliegenden Waldrand mit dem Gesicht nach unten im hohen Gras lag – genauso verkrümmt und reglos, wie auch sein Vater dagelegen hatte. Neanden erstarrte. Die Zeit schien plötzlich stillzustehen, und für einen endlosen, albtraumhaften Moment hatte er das Gefühl, von einer unsichtbaren Faust gepackt und zurückgerissen zu werden, zurück zu jenem schrecklichen Ort in der Menschenwelt, an dem erst wenige Stunden zuvor die blutigen Überreste seines Vaters von Ogaire in den harten Waldboden gestampft worden waren.
Kälte
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