Wächter des Elfenhains (German Edition)
reißen können, schien er längst nicht mehr zu besitzen.
Die Wahrheit war so schmerzhaft offenkundig, dass es Neanden vor Panik und Entsetzen die Kehle zusammenschnürte und die Welt im Rhythmus seines rasenden Herzschlags um ihn zu schwanken begann. Sie hatten sich etwas vorgemacht, hatten geglaubt, das Verhängnis im letzten Moment doch noch aufhalten zu können, aber Ogaire war einfach zu mächtig. Selbst Andion mit seinem Mut und seiner Opferbereitschaft, seiner Liebe zum Hain und seinen Bewohnern und seinem Vertrauen in Ionosen und die Kraft seiner Prophezeiungen hatte der Dunkelheit nichts entgegenzusetzen vermocht. Wenn nicht ein Wunder geschah, würde er in wenigen Augenblicken sterben – und das Herz des Waldes mit ihm.
Neanden ballte seine Hände zu Fäusten, zwang seine aufgewühlten Emotionen gewaltsam zur Ruhe. Noch war Andion nicht tot, noch gab es Hoffnung – wenn er schnell und entschlossen handelte. Doch was konnte er gegen ein Ungeheuer wie Ogaire ausrichten, wo selbst Andions Macht versagte? Seine eigene Magie schrumpfte angesichts der mörderischen Gewalten, die vor ihm auf der Lichtung entfesselt wurden, zu einem lächerlichen Nichts, war nicht mehr als der Flügelschlag einer Mücke, die von einem Tornado erfasst und davongewirbelt wurde. Ogaire würde nicht einmal bemerken, dass er in den Kampf eingriff, und falls doch, würde er ihn genauso beiläufig in ein Häufchen Asche verwandeln wie ein Strom aus glühender Lava, der sich über ein Gänseblümchen wälzte. Er konnte nicht hoffen, Andions Ende auf diese Weise auch nur um eine einzige Sekunde hinauszögern, geschweige denn ihn aus seiner Notlage befreien zu können.
Vor hilfloser Wut und Verzweiflung hätte er am liebsten geschrien, und er war kurz davor, sich mit bloßen Fäusten auf seinen Gegner zu stürzen, als er plötzlich eine Bewegung am Rande seines Blickfelds wahrnahm. Erschrocken fuhr er herum, starrte in das düstere Zwielicht – und entdeckte eine Sylphe, die ihn, halb verborgen hinter dem verkohlten Ast eines Baums, aus dem schattendunklen Dickicht heraus beobachtete.
Er zuckte zusammen, spannte seine Muskeln und griff nach seiner Magie, entschlossen, dem Tod hoch erhobenen Hauptes entgegenzublicken und so viele von Ogaires Höllenkreaturen wie möglich mit sich in den Abgrund zu nehmen, wenn es ihm schon nicht vergönnt sein würde, dem Opfer seines Vaters Ehre zu erweisen und in der Schicksalsstunde seines Volkes an Andions Seite zu kämpfen.
Die Sylphe wich ängstlich vor ihm zurück und duckte sich zitternd noch tiefer in die Schatten, und erst da erkannte Neanden seinen Irrtum. Die Seele dieser Sylphe war rein, unberührt vom widerwärtigen Gift Ogaires und frei von den Ketten aus Schwarzer Magie, die ihre Artgenossen draußen auf der Lichtung in ihren schrecklichen Bann geschlagen hatte, und wie ihn selbst hatte die Verzweiflung sie hergetrieben, das qualvolle Bedürfnis, irgendetwas zu tun und den drohenden Untergang des Hains und seiner Bewohner vielleicht doch noch abwenden zu können.
Er atmete tief durch und lächelte ihr beruhigend zu, um ihr zu zeigen, dass er keine Gefahr für sie darstellte, dann wandte er sich wieder dem Kampfplatz zu. Nur einen Moment später spürte er einen leichten Lufthauch, der sanft über seinen Körper strich, und plötzlich war er umgeben von Sylphen, echten, unbeeinflussten Sylphen, die nun aus ihren Verstecken hervorkamen und sich zitternd an ihn drängten, als könne er ihnen den Schutz und den Trost bieten, den sie nirgendwo sonst zu finden vermochten.
Wieder schaute er zur Lichtung hinüber, auf die brodelnden Wolken der kreischenden Windgeister und wieder zurück auf Ogaire – und erstarrte. Beinahe wie von selbst wanderte sein Blick zu seinem Bogen, den er die ganze Zeit über unbeachtet in seiner Hand gehalten hatte, dann zu den bebenden Sylphen, die ihn umringten. Verdammter Narr, der er war! Er hatte sich so sehr von der gewaltigen Zaubermacht seines Gegners blenden lassen, dass ihm andere Möglichkeiten, ihn zu verletzen, gar nicht in den Sinn gekommen waren. Bis zu diesem Moment hatte er allerdings angenommen, dass derartige Möglichkeiten gar nicht mehr existierten. Das Auftauchen der unversklavten Windgeister jedoch änderte alles.
Neanden suchte die Blicke der Sylphen, hob den Bogen und flehte sie stumm um Hilfe an. Seine Handflächen wurden vor Aufregung feucht, während er mit klopfendem Herzen auf ihre Antwort wartete. Denn natürlich wusste er ebenso
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