Waechter des Labyrinths
würde ich sagen.»
Angelos griff mit einer Hand nach seiner Jacke, mit der anderen nach dem Ordner und ging zur Tür. «Dann lass es uns heute Abend in zwanzig schaffen.»
SIEBENUNDDREISSIG
I
Während Michail in der Lagehalle gewesen war, war es vollkommen dunkel geworden. Die Laternen waren angegangen und warfen gelbe Lichtflecken auf den Parkplatz. In der Ferne hörte er Sirenen. Wie immer suchte die Polizei an den falschen Orten.
Das Rollfeld lag gleich hinter den Gebäuden, aber dorthin zog es ihn nicht mehr. Ein offenes Gelände und strenge Sicherheitsvorkehrungen waren das Letzte, was er jetzt brauchte. Daher wandte er sich in die andere Richtung, ging über den Parkplatz und stieg dann über einen niedrigen Zaun. Er passierte eine schmale Baumreihe, bis er sich auf einer Grasböschung wiederfand und auf die Flughafenstraße schaute, auf der der Verkehr nun wieder zügig vorankam. Um dort hinzugelangen, würde er allerdings über einen gut beleuchteten Zaun klettern müssen, der mit Stacheldraht versehen war und mit Sicherheitskameras überwacht wurde. Es war zwar schwierig, aber nicht unmöglich für ihn. Als er die Böschung hinabstieg, rollte unten auf der Straße ein Transporter heran. Er wurde langsamer, und ein bewaffneter Polizist sprang herunter. Vor dem Zaun bezog er Stellung. Dann fuhr der Wagen ein paar hundert Meter weiter, und der nächste Polizist sprang herunter. Die Arschlöcher sicherten das gesamte Gelände.
Fluchend rannte Michail zurück in den Schutz der Bäume, zog sein Handy aus der Tasche und versuchte, jemanden zu erreichen, der ihm helfen konnte. Aber weder sein Vater noch sein Großvater oder seine Brüder meldeten sich. Keiner ihrer Angestellten. Obwohl es ihm undenkbar erschien, dass ein Niemand wie Edouard seiner Familie ernsthaften Schaden zufügen konnte, fand er keine andere Erklärung. Plötzlich musste er an das Gefängnis denken, und ein Gefühl von Beklemmung stieg in ihm auf, ein Gefühl, das er bisher nicht gekannt hatte. Er rief andere Leute aus dem Umfeld der Familie an, doch vergebens. Erst als er es auf Zypern versuchte, ging jemand ans Telefon: Rafiel, ihr zypriotischer Stabschef. «Wer ist da?», fragte er.
«Ich bin’s, Michail. Was ist los? Ich erreiche niemanden.»
«Haben Sie es noch nicht gehört?»
«Was gehört?»
«Es hat einen massiven Angriff auf Nikortsminda gegeben. Polizei und Armee. Ich habe mit Jakob gesprochen. Er hat sich aus dem Staub machen können, wie, wollte er nicht verraten. Er sagte, dass es Schießereien gegeben hat, Hubschrauber waren im Einsatz. Ihr Großvater ist verhaftet worden, auch Ihr Vater und Ihre Brüder. Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Ihr Bruder Alexei wurde getötet.»
«Das ist unmöglich», sagte Michail. «Das würden die nicht wagen.»
«Im Fernsehen werden anscheinend Aufnahmen gezeigt, wie er einen Polizisten zu Boden schlägt und ihn dann mit einem Gewehr bedroht», sagte Rafiel. «Die Leute mögen keine Familien, die glauben, dass sie über dem Gesetz stehen.»
«Das ist doch eine Verschwörung», sagte Michail. «Die Leute werden das niemals hinnehmen.»
«Ich weiß nicht», entgegnete Rafiel. «Es gibt Berichte, dass in ganz Georgien das Volk auf die Straßen geht, vereinzelt ist auch von Handgemengen und Schüssen die Rede. Aber es gibt niemanden, der die Unruhen organisiert, der sie anführt, jetzt, wo Ihre gesamte Familie in Haft ist. Abgesehen von Ihnen natürlich.»
Michail blinzelte. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Durch die Verhaftungen war er im Grunde der Kopf der Familie, der Kopf der gesamten, von der Familie Nergadse geführten Opposition, ja, des gesamten Widerstands gegen Georgiens faschistische Regierung. Andere würden vor einer solchen Verantwortung vielleicht zurückschrecken, nicht aber Michail Nergadse. «Hör mir gut zu, Rafiel, ich bin jetzt der Chef. Ist das klar?»
«Ja, Sir.» Er konnte Rafiels Erleichterung hören. Endlich wieder Befehle, eine Struktur, eine Hierarchie. «Was brauchen Sie?»
Michail überlegte einen Moment. Der Präsident hatte seiner Familie den Krieg erklärt und zweifellos erkannt, dass er es nicht riskieren konnte, einen einzigen Nergadse auf freiem Fuß zu lassen. Wenn Michail also jetzt nach Hause flog, würden ihn die Behörden noch auf dem Flughafen festnehmen. Blieb er hier, würden sie die Griechen unter Druck setzen, ihn zur Strecke zu bringen. Und bis er nicht auf die eine oder andere Weise kaltgestellt war, würden sie ihn weiter
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