Wächterin der Träume
recht in der Annahme, dass dein Mal noch nicht erschienen ist?«
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Keine Ahnung.«
Wieder dieses huldvolle Lächeln. »Wenn es so wäre, würdest du es wissen. Sobald du dich deinen eigenen Möglichkeiten geöffnet und akzeptiert hast, was du bist, wirst du dein Mal empfangen – als deinen ganz persönlichen symbolischen Talisman.«
Ich blickte auf das Tattoo auf ihrer Brust. »Ist das dein Mal?«
Noch immer lächelnd strich sie mit den Fingern über die stilisierte Spinne. »Ja, es ist das Symbol der Ama. Es weist mich als Hohepriesterin aus.«
Sie war also nicht bloß irgendeine Priesterin, sondern eine ganz große Nummer. Schön. Ich wandte mich an Verek. »Wo ist deins?«
Grinsend schob der Nachtmahr seinen Hosenbund ein Stück herunter. Leicht nach links verschoben war unmittelbar über seinem rechten Hüftknochen ein kleiner Dolch eintätowiert. Er hatte sogar an dieser Stelle Muskeln – scharf gezeichnete Wülste auf beiden Seiten des Bauches. Ich muss gestehen, auch wenn ich es nie laut sagen würde, dass mir der Mund bei diesem Anblick ein wenig trocken wurde. Außerdem brannten mir die Wangen – ein Effekt, den er zweifellos beabsichtigt hatte.
»Der Dolch ist das Mal der Nachtmahre«, erläuterte Hadria, offensichtlich unbeeindruckt durch den Anblick von Vereks goldbrauner Haut.
»Ich bekomme also auch so eins?« O Gott, hoffentlich nicht am Bauch. Da war ich nämlich ein bisschen wabbelig.
Die große Frau hob leicht die Schultern. »Vielleicht. Oder auch ein anderes. Sobald du dein Mal trägst, werden wir besser wissen, in welche Richtung deine Begabungen tendieren.«
»Bei manchen Wesen dauert es lange, bis sie ihr Mal erhalten«, fügte Verek hinzu und warf mir einen Blick zu, der mich erneut erröten ließ. Dieses Mal jedoch, weil er meine Unsicherheit so klar erkannte hatte. »Mach dir nichts draus, wenn es noch eine Weile dauert, vor allem, weil du ja schon so viel kannst.«
Bei ihm klang es, als wäre es etwas Positives. Ich glaube, das war der Augenblick, in dem wir beide wirklich Freunde wurden. Zumindest erschien es mir so. Daher wischte ich mir die etwas feuchten Handflächen an der Jeans ab, stellte mich aufrecht hin und sagte: »Na, dann los.«
In Vereks Lächeln lag so viel Stolz, dass ich wegsehen musste. Ich glaube, mir war es lieber, wenn er mich neckte. Dennoch gab mir sein Lächeln ein wenig Kraft und Selbstvertrauen, während der Schatten in der Ecke an der Wand hinaufkroch, bis er fast unter der Decke schwebte. Offensichtlich mochte auch Hadrias Hausgespenst den Nebel nicht.
Der Nachtmahr und die Priesterin stellten sich rechts und links von mir auf und nahmen mich bei der Hand.
»Was macht ihr denn?«, fragte ich, ließ es jedoch zu, dass sich unsere Finger verschränkten.
»Lektion Nummer eins«, sagte Verek und blickte auf mich herunter. »Bring uns zum Nebel.«
Ich starrte ihn an. »Das kann ich nicht.«
»Doch, kannst du.« Er drückte meine Hand. »Tu einfach so, als würdest du eine Pforte zu dieser Welt öffnen. Stell dir vor, wo du hinmöchtest, und bring uns dann kraft deines Willens dorthin.«
Das Teleportieren wollte ich natürlich gern lernen, aber ich hatte gedacht, sie würden mir erklären, wie es ging, und nicht erwarten, dass ich es schon konnte. Die setzten mich ja ganz schön unter Druck! Ich wollte mich vor Hadria ungern blamieren, aber wenn ich es nicht wenigstens versuchte, hätte ich in mehr als einer Hinsicht versagt.
Also holte ich tief Luft, wobei ich hoffte, dass meine Hände nicht allzu schwitzig waren, und schloss die Augen. Ich dachte an die Orte, an denen ich dem Nebel gewöhnlich begegnete, und entschied mich für die Tore des Palastes.
Ich verdrängte alles andere, insbesondere alle Zweifel und Furcht, aus meinem Bewusstsein. Das war nicht leicht, aber ich schaffte es. Als ich bereit war, stieß ich die gesamte Luft aus den Lungen, packte die Hände meiner Gefährten fester und konzentrierte mich auf mein Ziel. Eine leichte Brise fuhr mir durchs Haar, und als ich die Augen wieder öffnete, standen wir vor den Toren aus Horn und Elfenbein.
»Ausgezeichnet«, lobte Hadria und ließ meine Hand los. »Sehr beeindruckend, Dawn.«
Ich versuchte, mich lässig zu geben, als wäre es nichts Besonderes, doch der Effekt wurde durch mein blödes Grinsen zunichtegemacht. »Danke.«
Selbst Verek wirkte beeindruckt, und mir kam der Gedanke, dass ich etwas geschafft hatte, was Hadria nicht fertigbrachte.
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