Während ich schlief
dort liegen, so still wie in Stasis.
»Mommy, versetz mich in Stasis, bitte«, wimmerte ich, als sie nach Hause kam.
»Nein, Liebes«, sagte sie und wischte mir die Tränen ab. Ich hatte so lange und so heftig geweint, dass sie schon nicht mehr salzig schmeckten. Sie umarmte mich fest. »Du hast das Richtige getan, Schatz. Ich bin sehr stolz auf dich.«
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Als Xavier das Gleiche im Hinblick auf meine Kunst gesagt hatte, hatte ich ihm gedankt. Als Mom es nun sagte, wollte ich sterben. »Bitte«, bettelte ich. »Ich halte es nicht mehr aus.«
Sie sah mich stirnrunzelnd an und meinte schließlich: »Für einen Tag, wenn du unbedingt möchtest. Aber du hast richtig gehandelt, und ich werde nicht zulassen, dass du davor davonläufst.«
Es wurde besser, als die Stase-Chemikalien Xaviers entsetzlich trauriges Gesicht und das Elend meiner verlorenen Seele hinwegschwemmten. Doch als Mom mich am nächsten Tag weckte und zwang, zur Schule zu gehen, war alles wieder so schlimm wie zuvor, wenn nicht sogar schlimmer durch die glasklare Erinnerung nach der Stasis.
Der folgende Monat bestand nur aus Wellen um Wellen von Schmerz. Manchmal sah ich ihn in den Fluren der Wohnanlage und wandte mich schnell ab, damit er nicht auf mich zukam. Aber nachmittags, zu der Zeit, als wir so oft im Garten zusammen spazieren gegangen waren, stellte ich mich ans Fenster und beobachtete ihn, wie er allein die Wege abschritt. Er sah so verloren aus. Ich fühlte mit ihm, so wie damals, als er fünf
war und seinen Plüschhasen verloren hatte. Als er sieben war und vom Fahrrad gefallen war. Als er mir mit dreizehn gestand, dass das Mädchen, das ich für seinen ersten Schwarm gehalten hatte, ihm das Herz gebrochen hatte. Wenn das Bedürfnis, hinauszulaufen und ihn um Verzeihung zu bitten, zu stark wurde, lief ich stattdessen zu meiner Mutter und flehte sie an, mich in Stasis zu versetzen, und sei es nur für ein paar Tage.
Sie kam meinem Wunsch nach.
»Bis sie mich nicht mehr aufweckte«, sagte ich leise.
A ll das ergoss sich in Ottos Bewusstsein. Innerhalb von nicht einmal fünf Minuten. Irgendwann während meines Schwalls von Selbstvorwürfen hatte Otto meine Hand losgelassen und mich dafür in die Arme genommen, sein Gesicht an meines geschmiegt. Er war warm und ganz ruhig und blies mir seinen Atem ins Ohr.
Es wunderte mich, dass ich keine Gedanken von ihm auffing. Ich spürte nur etwas in einem Winkel meines Geistes, etwas Unvollendetes, das sich still verhielt und nichts berührte. Ich zog mich ein Stück zurück, doch Otto hielt mein Handgelenk fest. »Warum kommst du mir jetzt nicht mit den üblichen Plattitüden: Es war nicht deine Schuld, du konntest es nicht wissen, deine Eltern haben dich dazu gezwungen, niemand verdient es, einen langsamen Tod in der Stasis zu sterben, egal, was man getan hat – und so weiter?«
Um Ottos Augen bildeten sich kleine Fältchen, und ich merkte, dass das sein echtes Lächeln war im Gegensatz zu dem künstlichen für den gesellschaftlichen Gebrauch. »Du hast es gerade selbst gesagt«, dachte ich mit einer fremden Stimme.
»Ich glaube es aber nicht.«
»Doch, das tust du«, entgegnete Otto mit Gedanken, die mehr als Worte waren. »Du hast es immer geglaubt. Du hasst dich selbst nur zu sehr, um es dir einzugestehen. «
Otto log nicht. Ich spürte, dass er meinte, was er sagte. Und er hatte gespürt, wie viel ich unter meinem Selbsthass vergraben
hatte. Eines Tages hätte ich das selbst erkannt, aber mit Ottos Hilfe kam es viel schneller an die Oberfläche.
Meine Eltern waren stets im Unrecht gewesen, aber sie hatten mich so geformt, dass ich glaubte, sie seien im Recht. Es war nicht Xavier, den sie ablehnten; sie hatten etwas gegen jeden, der wusste, was sie mir antaten. Deshalb hatte ich zuerst auch versucht, Guillory zu schützen und meinen Verdacht gegen ihn nicht zu äußern. Das war mir in Fleisch und Blut übergegangen. Ich hatte Mom und Daddy nach außen hin geschützt, indem ich alles für mich behielt, jede Gemeinheit, die sie mir an den Kopf warfen, jeden herabsetzenden Gedanken, den sie mir einpflanzten, all die Zeiten in der Stasis, damit sie sich nicht mit ihrer Tochter abzugeben brauchten.
Als ich den Preis der Jungen Meister gewonnen hatte, waren sie in Panik verfallen. Ich hätte frei sein können, genau wie Otto, als er sein Stipendium erlangte. Dann hätten sie ihre dressierte, manipulierte Tochter verloren. Folglich
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