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Während ich schlief

Während ich schlief

Titel: Während ich schlief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Sheehan
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mir seinen Großvater vor.
    Ron saß an seinem Schreibtisch, hatte die Holofunktion seines Fons abgestellt und es sich ins Ohr gesteckt, sodass er vertraulicher sprechen konnte. »Nein, das verstehe ich«, sagte er gerade. »Doch, ich fürchte, es ist dringend. Unbedingt ... Nun, das möchte ich dem Vorstand nicht erklären müssen ... Das würde ich nur im Notfall tun ...« Er klang ruhig, aber umso einschüchternder, und ich war froh, dass er für mich handelte und nicht gegen mich. Diesem Mann wollte ich nicht in die Quere kommen.
    Er war leicht zu zeichnen. Meine Kohle flog nur so übers
Papier, abwärts mit den Linien seiner Nase, aufwärts über die Wangenknochen, die Kinnlinie entlang. Sein Hals bereitete mir Schwierigkeiten. Ich hatte bisher nicht viel Gelegenheit gehabt, ältere Männer zu skizzieren, und war nicht geübt darin, faltige Haut wiederzugeben. Als ich das Gesicht im Ganzen erfasst hatte, konzentrierte ich mich noch einmal auf die Stirnpartie, um sicherzugehen, dass ich seine Augen hinter der Brille richtig getroffen hatte. Er war wirklich sehr leicht zu zeichnen.
    Zu leicht.
    Ich kannte diese Züge. Ich betrachtete den alten Mann, der sich mit der geübten Lässigkeit vieler Jahrzehnte am Schreibtisch in seinem Sessel zurücklehnte. Unmöglich. Vor lauter Besessenheit sah ich Gespenster.
    Ich beugte mich wieder über das Papier und skizzierte noch einmal seine Gesichtsform – Wangenknochen, Kinn, Kiefer, Nase –, ließ jedoch die Falten, die Brille, den Haarschnitt weg. Besonders sorgfältig zeichnete ich die Augen.
    Das konnte nicht sein. Das bildete ich mir ein. Ich sah für einen Moment weg, dann wieder hin.
    Ich kannte dieses Gesicht. Und wie ich es kannte.
    Eiskristalle krochen durch mein Blut. Ein ekliger Säuregeschmack klebte mir im Mund, aber ausnahmsweise wurde mir nicht übel. Ich saß einfach nur da und starrte stumm diesen uralten Mann an.
    Brens Großvater schaltete sein Fon aus, stand auf und wollte zur Tür gehen. Ich schoss vom Sofa hoch und beeilte mich, ihm den Weg zu versperren. Dabei erschreckte ich Bren, der krachend den Mülleimer umwarf.
    Der Alte zog die Augenbrauen hoch, als ich vor ihm stand. »Ja?«
    Atemlos und flach stieß ich die Worte hervor. »Was hast du zu deiner Entschuldigung zu sagen?«

    Sein Gesicht zuckte nervös. »Weswegen?«
    Ich gab ihm das Skizzenbuch. Stirnrunzelnd blickte er auf die Kohlezeichnung, die ich von ihm gemacht hatte, und die halbfertige Skizze daneben. Ich blätterte zur vorigen Seite um.
    Das letzte Bild meiner Xavier-Serie blickte ihm entgegen: Xavier mit siebzehn, sein zärtliches Lächeln, seine leuchtenden braungrünen Augen, der kleine Spitzbart, der Ausdruck zögernder Zurückhaltung, der ihn stets davor bewahrte, dass sein arroganter Zug die Oberhand gewann.
    Der alte Mann sah unverwandt auf die Zeichnung, und seine traurigen Augen wurden noch trauriger. Er blätterte weiter zurück, und da war er mit fünfzehn, seine Nase noch nicht richtig ausgeprägt, ein erster dünner Flaum am Kinn, die Befangenheit deutlicher. Dann mit zwölf, den Schalk in den Augen. Er überblätterte ein paar Seiten und schloss das Buch bei der Zeichnung von sich mit drei Jahren, ein pausbäckiger Engel mit Schokolade auf der Nase. »Ich bin erstaunt, dass du dich so gut erinnerst«, sagte er.
    Ich starrte Xavier an, meinen Xavier, hoch in den Siebzigern, mit schlaffer Haut, die blonden Haare nun weiß, die strahlenden Augen trüb vom Alter, ein schlecht verborgener Tremor in seiner rechten Hand. Mein Xavier. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Das tote, hohle Gefühl stellte sich wieder ein. »Es ist nicht so lange her«, sagte ich.
    Xavier lächelte wehmütig. »Doch, das ist es.«
    Er hatte recht. Es war sehr lange her – in einem anderen Leben, als ich ein anderes Mädchen war. Die edle Prinzessin von UniCorp, Champagnerkönigin jedes Mal, wenn sie die Augen aufschlug, eine Modepuppe, beherrscht und gesetzt. Ein Mädchen, dessen hingebungsvolle Eltern sie nie dem langsamen Tod durch Stasis-Erschöpfung aussetzen würden, ein Mädchen mit einem besten Freund, der sie liebte und immer
für sie da sein würde. Ich hatte mich an dieses Leben geklammert, mir eingeredet, dass ich immer noch dieses Mädchen war, aber nein. Ich war eine andere, verloren und allein, kein Kind dieser Zeit, eine Last für Guillory und Bren und jeden, der unter meinem Wiederauftauchen litt. Eine Last für ihn.
    »Das Atelier habe ich dir zu verdanken«,

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