Wahlkampf: Ein Mira-Valensky-Krimi
roten Samt traf man auf Betrunkene, die den Weg heim vergessen hatten, Studentinnen, die keine Lust hatten, schlafen zu gehen, Huren, die es für heute aufgegeben hatten und überlegten, wieder als Verkäuferinnen zu arbeiten, ältere Männer, die um vier in der Früh Schach spielten, weil die Vergangenheit sie schlaflos machte, ein paar Punker, die vor sich hin stierten.
Vesna rief mich an. Sie war gut heimgekommen. Sie war unverletzt. Sie beschrieb mir noch einmal genau, was sie in Orsolics’ Büro getan hatte. Kreuze auf den Geldscheinen. Eine brillante Idee. Das Geld war in einem weinroten Lederkoffer mit zwei Nummernschlössern gewesen. In einer Ecke des Kofferdeckels waren die Buchstaben L. D. eingeprägt.
Nach dem zweiten irischen Whiskey schlief ich ein. Mein Kopf rutschte auf Drochs Schulter.
Um sechs bestellten wir Fiakergulasch. Heiß und scharf, mit Spiegelei und Essiggurkerl. Ich wurde wieder munter. Um sieben nutzte Droch seinen guten Draht zur Polizei. »Ein alter Freund«, erklärte er. »Wir haben gemeinsam begonnen: ich als Gerichtsberichterstatter, er als Jusstudent, der sich das Studium als Polizist verdient hat. Seither …«
Die Frau des Freundes hob ab. Droch wartete. »Sie holt ihn aus der Dusche«, flüsterte er mir zu und gähnte.
Drochs Freund kam endlich an den Apparat. »Hat es letzte Nacht in Vogls Wahlzentrale eine Schießerei gegeben?«, fragte Droch, ohne etwas zu erklären. Dann nickte er einige Male. »Ich brauche die Antwort bald, und bitte halte mich da heraus.« Am Ende des Telefonats versicherte Droch: »Ich schreibe auch nichts darüber, zumindest vorläufig nicht. Ich brauche die Information für weitere Recherchen …« Sein Freund unterbrach ihn. »Du kennst mich, ich würde nie etwas verschweigen, was ihr wissen müsst«, beteuerte daraufhin Droch. »Bitte frag nach.« Nach dem Gespräch sah mich Droch an. »Jetzt habe ich einen meiner besten Freunde angelogen.«
»Und ich bin schuld«, murmelte ich.
»Vergiss es. Hauptsache, er meldet sich bald.«
Drochs Handy läutete nach zwei Minuten. Aber es war nicht der Polizeibeamte. »Ich habe dir gesagt, dass ich an einer Story dran bin.« Pause. »Logisch, dass ich nicht in der Redaktion bin.« Pause. »Ja, das stimmt. Ja, habe ich schon lange nicht mehr gemacht.« Pause. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.« Pause. »Nein.« Kurze Pause. »Ja.« Pause. »Ich bin ein erwachsener Mensch.« Pause. »Ja, sie ist mit dabei.« Pause. Droch wurde lauter. »Vergiss es. Machst du dir jetzt um mich Sorgen oder um etwas anderes?« Pause. Droch senkte wieder die Stimme. »Natürlich. Natürlich verstehe ich das. Ich habe dir ja gesagt …« Pause. »Dann hör mir eben besser zu. Verdammt, ich arbeite.« Er brach das Gespräch ab.
»Entschuldige«, sagte ich.
»Fängst du jetzt auch schon so an?«, fauchte Droch.
Ich rührte in meinem Kaffee herum.
»Sag wenigstens was.«
»Okay«, sagte ich. »Es geht mich nichts an,was zwischen dir und deiner Frau läuft. Aber sie macht sich Sorgen, und du schiebst sie einfach weg. Sie bringt Brötchen und verschwindet wieder still und leise.«
»Du weißt alles, ja? Dann weißt du auch, was uns verbindet. Sie glaubt, sich Tag und Nacht um mich kümmern zu müssen. Und ich glaube, dass ich nicht gehen darf, weil sie sich so selbstlos um mich kümmert. Auch wenn ich es kaum mehr ertrage.«
Ich weinte in meinen Kaffee.
»Vergiss es«, sagte Droch. »Mir sind die Nerven durchgegangen.«
Ich tupfte mir die Augen. Übernächtig. Dieses Weinen durfte nicht zur Gewohnheit werden …
Drochs Handy läutete noch einmal. Diesmal war es sein Freund von der Polizeidirektion. Es war keine Schießerei gemeldet worden. »Ganz sicher?«, fragte Droch irritiert. Ja, ganz sicher.
»Vielleicht will man die Sache vertuschen«, vermutete ich.
»Weltverschwörungen gibt es nur in der Fantasie einiger Bestsellerautoren und in den Hirnen einiger unterbelichteter Politiker. Mein Freund hätte mir einen Wink gegeben, wenn er davon nichts hätte sagen dürfen.«
Keine Schießerei also. Und was war das gewesen, was wir erlebt hatten? Jedenfalls keine Filmschüsse.
Wir machten uns auf den Weg zu Drochs Auto. Menschen eilten zur Arbeit, der Frühverkehr hatte voll eingesetzt. Im Tageslicht war es beinahe schon glaubhaft, dass letzte Nacht nichts passiert war. Ich bestand darauf, mit der U-Bahn nach Hause zu fahren. Es würde schneller gehen. Eine Dusche, und dann in die Redaktion. Und irgendwann einmal eine
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