Wahn - Duma Key
Unbesonnenes getan haben könnte, obwohl das wenig wahrscheinlich ist; seit die Suche eingestellt wurde, hat sein Kummer ihn gleichgültig und teilnahmslos gemacht.
Als bei Sonnenuntergang noch immer kein Lebenszeichen von Em gekommen ist, müsste sie eigentlich nervöser als je zuvor werden, doch stattdessen wird sie gelassen, fast fröhlich. Sie erklärt Nan Melda, dass Em demnächst zurückkommen wird, sie ist sich ganz sicher. Sie spürt es in den Knochen und hört es in ihrem Kopf, wo es wie ein läutendes Glöckchen klingt. Sie vermutet, dass man dieses Glöckchen meint, wenn von »weiblicher Intuition« die Rede ist, und glaubt, dass man sie erst ganz wahrnimmt, wenn man verheiratet ist. Auch das erzählt sie ihrem früheren Kindermädchen.
Nan Melda nickt und lächelt, aber sie beobachtet Adie genau. Sie hat sie den ganzen Tag nicht aus den Augen gelassen. Ihr armer Mann ist fort, das hat Libbit ihr erzählt, und Melda glaubt ihr, aber Melda glaubt auch, dass der Rest der Familie gerettet werden kann … dass sie selbst gerettet werden kann.
Viel hängt jedoch von Libbit selbst ab.
Nan Melda geht nach oben, um nach ihrer übrig gebliebenen Kleinen zu sehen, und berührt die Armreife an ihrem linken Arm, als sie die Treppe hinaufsteigt. Die Silberreife sind von ihrer Mama, und Melda trägt sie jeden Sonntag in der Kirche. Vielleicht hat sie sie deshalb heute aus ihrer Schatulle genommen, sie übergestreift und so weit hochgeschoben, dass sie fest am Unterarm sitzen, statt leise klirrend über dem Handgelenk zu baumeln. Vielleicht wollte sie sich ihrer Mama ein wenig näher fühlen, ein wenig von der ruhigen Kraft ihrer Mama borgen, oder vielleicht wollte sie nur ein für sie wertvolles Andenken tragen.
Libbit sitzt in ihrem Zimmer und zeichnet. Sie zeichnet ihre Familie, Tessie und Lo-Lo durchaus noch eingeschlossen. Die acht Personen (aus Libbits Sicht gehört auch Nan Melda zur Familie) stehen am Strand, wo sie so viele glückliche Stunden mit Schwimmen, Picknicks und Sandburgenbauen verbracht haben, halten sich in der Manier von Ausschneidepuppen an den Händen und lächeln so breit, dass bei jedem das Lächeln über den Gesichtsrand hinausgeht. Als glaubte sie, sie könnte sie durch reine Willenskraft in ein glückliches Leben zurückzeichnen.
Nan Melda könnte das fast für möglich halten. Das Kind ist mächtig. Doch Leben wiederzuerschaffen übersteigt auch Libbits Kräfte. Wirkliches Leben wiederzuerschaffen übersteigt sogar die Kräfte des Wesens, das in ihrer herzförmigen Blechschachtel liegt. Nan Meldas Blick streift diese Schachtel, bevor sie sich wieder Libbit zuwendet. Sie hat die aus dem Meer kommende Gestalt nur einmal gesehen: eine ganz kleine Frau in einem altrosa Umhang, der einmal scharlachrot gewesen sein mag, und einer Kapuze, unter der Haare hervorquellen, die ihr Gesicht verbergen.
Sie fragt Libbit, wie es ihr geht. Mehr wagt sie nicht zu sagen, weiter wagt sie nicht zu gehen. Falls sich unter den Locken des Wesens in der Schachtel tatsächlich ein drittes Auge - ein weit blickendes Mojo-Auge - verbirgt, kann man gar nicht vorsichtig genug sein.
Libbit sagt: Gut. Ich zeichne nur, Nan Melda.
Hat sie vergessen, was sie tun soll? Nan Melda kann nur hoffen, dass sie es nicht getan hat. Sie muss jetzt wieder hinunter und ein Auge auf Adie haben. Ihr Mann wird sie bald rufen.
Ein Teil von ihr kann nicht glauben, dass dies alles passiert; ein anderer Teil hat das Gefühl, dass ihr ganzes Leben sie auf das hier vorbereitet hat.
Melda sagt: Vielleicht hörst du mich dein Daddy rufn. Dann solltest du das Zeug reinholn, das du am Pool gelassn hast. Lass es nachts nicht draußn, wo der Tau es verderbn kann.
Libbit zeichnet einfach weiter, ohne aufzublicken. Aber dann sagt sie etwas, das Meldas verängstigtes Herz erfreut. Mach ich. Und ich nehm Perse mit. Dann hab ich keine Angst, wenn es dunkel ist.
Melda sagt: Nimm mit, wen du willst, aber hol Noveen rein, die liegt noch draußn.
Das ist alles, wofür sie Zeit hat, alles, was sie wagt, wenn sie an dieses spezielle, forschende Mojo-Auge denkt -und wie es vielleicht versucht, ihre Gedanken zu lesen.
Als Melda die Treppe hinuntergeht, berührt sie nochmals ihre Armreife. Sie ist sehr froh, dass sie sie in Libbits Zimmer getragen hat, obwohl die kleine Porzellanfrau in der Blechschachtel eingesperrt war.
Sie kommt eben noch rechtzeitig, um Adies Kleid am Ende des hinteren Korridors wirbeln zu sehen, als Adie in der Küche
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