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Wahnsinn Amerika: Innenansichten einer Weltmacht (German Edition)

Wahnsinn Amerika: Innenansichten einer Weltmacht (German Edition)

Titel: Wahnsinn Amerika: Innenansichten einer Weltmacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Scherer
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Stimme, mit der er die Erzählkunst seines Stammes rühmt. Jedes Schulkind der Region freut sich auf seine Geschichten.
    »Dass draußen Wind weht«, sagt der faltige Alte, dessen ergrautes Haar in zwei langen, rot umwickelten Zöpfen herabhängt, »liegt daran, dass in den Bergen ein riesiger Hirsch mit seinen Ohren wedelt. Aber einmal hat der Bär den Hirschen mitsamt dem Wind gestohlen. Er schnürte beide in ein Bündel Fell und nahm es mit in seine Höhle. Da wurde es kalt, und Menschen und Tiere hungerten.«
    Viele Tiere hätten vergeblich versucht, den Wind zu befreien. Doch erst ein kluger Indianerjunge sei auf die Idee gekommen, in die Höhle Pfeifenrauch zu blasen und so den Bären einzuschläfern, bis er schnarchte. »Danach halfen ihm die Tiere, das Fellbündel aufzuschnüren. Der Kojote schleppt es ins Freie, und das schneeweiße Präriehuhn pickte die Knoten auf.«
    »Wieso das Huhn?«, will ein Mädchen wissen.
    »Na, weil das Maul des Kojoten dafür viel zu groß war, der Hühnerschnabel aber genau richtig. Kaum war der Knoten gelockert, brach der Wind nur so heraus und wirbelte ringsherum so viel Staub auf, dass das Präriehuhn seitdem braune Flecken hat«, endet der Häuptling. »Von nun an teilten sich wieder alle den Wind. Jetzt wisst ihr nicht nur, warum der Bär im Winter schläft, sondern auch, dass man mehr erreicht, wenn man sich gegenseitig hilft.«
    Auch er habe als Kind den Alten gerne zugehört, sagt mir Curly Bear, als ich später mit ihm dem »Häuptlingsberg« entgegenwandere, einem schroffen, pultförmigen Felsen, den die Wolken meist weithin verhüllen und so noch mystischer erscheinen lassen. In der Ferne sehen wir Rotwildherden. Ich frage, ob er den Hirschen entdecke, der den Wind mache.
    »Die Frage habe ich früher auch gestellt«, sagt er und schwärmt von seinen Vorfahren. »Abends flüsterten sie immer, damit wir noch aufmerksamer zuhörten. Wenn wir ihre Geschichten nicht bewahren, gehen sie verloren.« Auch von den Riten der Medizinmänner berichtet er, die noch heute tagelang in den Bergen ausharren, um von der Natur Heilkräfte zu empfangen, sei es von Pflanzen oder vom Flug der Vögel. Ob er selbst als Kranker denn eher zum Schamanen ginge oder in ein Krankenhaus? »Mich bekommt keiner in eine Klinik«, lacht er da. Zwei Jahre später vermögen ihm beide nicht zu helfen. Curly Bear stirbt mit nur 64 Jahren an Krebs.
    Auch auf Reisen in Alaska und Kanada höre ich in Indianer- und Inuit-Gemeinden oft den Alten zu. Viele Schulen bitten sie wie Curly Bear längst in den Unterricht. Denn was sie ihre Kinder und Enkel lehrten, bevor es Schulen gab, fehlte fortan in den Lehrplänen: traditionelle Fähigkeiten vom Gerben eines Rentierfells oder dem Bau eines Kanus bis zur Musik der Ureinwohner. »Stattdessen bringen wir den Kindern viel zu viele Dinge bei«, beklagen Lehrer, »mit denen sie sich später nur um Jobs bewerben können, die es hier ohnehin nie geben wird.«
    Baumwolle, Stahl, Schule
     
    Unterdessen drückt Alferd Williams, dessen Weg wir bald in einer Grundschule im Bundesstaat Missouri kreuzen, die Erstklässlerbank. Denn Alferd – der nun, da er das Alphabet kennt, noch nachdrücklicher jeden darauf hinweist, dass er tatsächlich »Alferd« und nicht »Alfred« heißt – hat seiner alten Mutter einst versprochen, noch lesen zu lernen. Das tut er jetzt, obwohl er selbst schon über 70 Jahre alt ist.
    Es ist acht Uhr früh, als Lehrerin Alisia Hamilton die Kleinen in den Klassenraum bittet. In ihrer bunten Schar fällt Alferd nicht nur auf, weil er größer und älter ist. Im Gegensatz zu ihnen, deren Lachen nur die eine oder andere Zahnlücke freigibt, ist sein Mund längst völlig zahnlos. Zu lustiger Kindermusik lehrt Miss Hamilton hier Buchstabenfolgen und einfache Wörter. Alferd hat sie als Freiwilligen in die Klasse aufgenommen, nachdem alle Eltern einverstanden waren.
    Nachmittags blättert er oft noch in der Bibliothek Bilderbücher durch und müht sich, seine Krakelschrift zu verbessern.
    »Ich brauche zwar zwei Tage für alles, was die Kinder in zwei Stunden lernen«, sagt er mir. »Aber ich fühle mich trotzdem wie einer von ihnen. Alter bedeutet nichts. Aber einem Erwachsenen wie mir bedeutet es unendlich viel, im Alltag mit Buchstaben umgehen zu können, statt ständig jemanden um Hilfe zu bitten, etwa beim Einkaufen, egal wie klug ich sonst bin.«
    Als Alferd im Schulalter war, lebte sein Vater schon nicht mehr. Mutter und Geschwister arbeiteten

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