Wahnsinn Amerika: Innenansichten einer Weltmacht (German Edition)
meisten tragen keinen Namen. In seiner Predigt beklagt er, dass manche Regierungsbeamte noch immer das Aufstellen von Trinkwasserfässern verbieten. »Wir dürfen in der Wüste jagen und töten«, klagt er von der Kanzel, »aber Leben retten soll verboten sein?« Dann bekräftigt er seinen Appell an Behörden und Bevölkerung, das Problem lösen zu helfen: »Das Problem, dass vor unseren Haustüren Menschen sterben.«
Danach tragen sie die Kreuze durch die Stadt, reden mit Passanten und werfen in ihren Kommentaren den Verantwortlichen schon mal vor, dass sie die Grenzgänger bewusst in die tödliche Wüste abdrängten. »Diese Menschen übernehmen hier Billigjobs, die sonst keiner will«, klagt Hoover. »Und die, die sie einstellen, bleiben bei Razzien unbestraft. Dafür gehen die Billigarbeiter tagelang mit zwei Flaschen Wasser durch 50 Grad Hitze. Und vor den Einzigen, die sie retten könnten, den Grenzpatrouillen nämlich, verstecken sie sich.«
Ich frage ihn, was ihn dazu brachte, seine Initiative zu starten. Da schildert er mir einen Tag, den er nie mehr vergessen werde. »Damals fand ich selbst eine Tote«, sagt er, »die Untersuchung ergab, dass sie 42 Tage zuvor gestorben war. Das Haar klebte noch am Schädel, der Rest war nur noch Gerippe. Die Tiere der Wüste hatten sie aufgefressen.«
Und dann sei da noch etwas. Die Doppelmoral des heutigen Amerika – das bekanntlich aus nichts anderem entstanden sei als aus illegalen Einwanderern.
Das Pech der Pelikane
An einem jener hektischeren Tage, die unsere Branche »nachrichtenstark« nennt, packe ich meine Siebensachen, um schnellstmöglich an einen Ort zu reisen, dessen Name mehr verspricht, als er wird halten können: Venice. Er besteht nur aus ein paar verstreuten Häusern, Straßenkreuzungen, Werftgrundstücken mit betoniertem Kai und einem Motel, das so trostlos funktional ist wie fast alle Motels. Eine riesige Asphaltfläche, umbaut mit Billigzimmern, ein jedes mit Blick auf seinen Parkplatz vor der Tür – die depressionsförderndste Form der Unterbringung, die Amerika für Reisende bereithält. Es sind jene Gelegenheiten, in denen ich mitunter denke, dieses Land ist nicht für Menschen konzipiert, die in Autos herumfahren, sondern in Wirklichkeit für Autos, denen die Menschen nur ein bisschen helfen.
Wir werden wochenlang bleiben, mit Reportern, Producern, Kamerateams und Cuttern, denn Venice wird zum ersten Zentrum der Berichterstattung über eine der größten Umweltkatastrophen in Amerikas Geschichte. Die Ölpest im Golf von Mexiko.
Vor Louisianas Küste ist gerade eine Bohrplattform des BP-Konzerns in Flammen aufgegangen und berstend versunken. Elf Arbeiter starben. Der Ölmulti beschwichtigt zunächst, Umweltschäden seien unwahrscheinlich. Doch dann kommt die schwarze Brühe aus dem offenen Bohrloch. Tonnenweise strömt sie von nun an vom Meeresgrund empor, in die Fanggebiete zahlloser Fischer, auf die Sandstrände der Touristenziele in Alabama und Florida zu – und über die einzigartigen Vogelschutzgebiete des Mississippi-Deltas.
»Fast alle Zugvögel Nordamerikas nisten hier. Es ist die Kinderstube des Kontinents«, sagt uns ein Greenpeace-Aktivist, der am gleichen Tag ankommt wie wir. »Auch die Meeresschildkröten schlüpfen gerade und wachsen im Wasser heran. Es ist wirklich der schlimmste Zeitpunkt.«
Fischer lassen sich vom BP-Konzern anheuern, um Schwimmbarrieren auszulegen. Als Fanggebiet sind die Gewässer vorerst gesperrt. »Wir bereiten uns auf den schlimmsten Fall vor, auch wenn wir hoffen, dass er nicht eintritt«, sorgt sich Alabamas Gouverneur Bob Riley auf einer ersten Pressekonferenz.
Uns Reporter stellen solche Dauereinsätze täglich vor weitere Fragen: Sind wir noch am richtigen Ort oder sieht man anderswo mehr? Was passiert, wo wir nicht sind? Was berichten die US-Sender, die Agenturen, die Konkurrenten? Von wo aus können wir Nachrichtenstücke überspielen, von wo live nach Deutschland schalten? Wie bekommen wir Zugang zu Schiffen und Helikoptern, zu Entscheidungsträgern, Fachleuten, Geschädigten? Was haben wir exklusiv? Welche Fragen stellen sich morgen?
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