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Wahnsinn Amerika: Innenansichten einer Weltmacht (German Edition)

Wahnsinn Amerika: Innenansichten einer Weltmacht (German Edition)

Titel: Wahnsinn Amerika: Innenansichten einer Weltmacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Scherer
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oben herunterschauen, könnte man sehen, wie sich die Pfade hier treffen.« Danach führten sie entlang einer Reihe von Telegrafenmasten weiter nach Norden. 35 Meilen bis zum nächsten Ort. Viele seien schon lange unterwegs, wenn sie hier durchkämen, oft nur mit wenig Wasser und einer Dose Thunfisch ausgerüstet. Zudem gebe es hier Klapperschlangen und Skorpione.
    »Was antworten Sie Landsleuten, die Ihnen Beihilfe zur illegalen Einwanderung vorwerfen?«, frage ich.
    »Dass sie wohl einen anderen Gott haben als ich. Mehr kann ich darauf nicht antworten«, sagt der Pfarrer und zieht die Schultern hoch. Mit den Grenzpatrouillen hatte der Pastor anfangs eine Absprache getroffen, dass sie die Wasserstationen unbeobachtet lassen. Aber die sei gar nicht nötig gewesen. Die Grenzer seien hier ohnehin überfordert. »Um diese 2000-Meilen-Grenze zu bewachen, bräuchtest du 150 000 Mann«, erklärt er mir mit rauer Stimme, »wir haben doch wohl Besseres zu tun. Die ganze Debatte ist lächerlich.«
    Doch seit andere Grenzabschnitte hochgerüstet wurden, in Kalifornien vor allem, beobachten Hoover und seine Mitstreiter, dass der Andrang auf den Wüstenpfaden steigt, trotz aller Risiken. Darunter seien auch mehr und mehr Frauen, die nur ihren Männern folgen wollten.
    In ihrem kleinen Büro im nächsten Ort zeigt uns eine Latino-Hilfsinitiative Archivfotos von Vermissten. »Das ist Erika, daneben ihre Begleiterin, beide sind 21 Jahre alt«, sagt die Mitarbeiterin und blickt auf zwei Frauen mit recht kindlichen Gesichtern. Dann klickt sie die Landkarte an. »Einer aus ihrer Gruppe hat uns gemeldet, wo man sie zurückgelassen habe. Demnach kreuzten sie hier die Grenze und später noch die Straße.« Zuerst sei die eine zusammengebrochen, dann die andere.
    »Zuletzt hörten wir auch von einer 18-Jährigen, die ein 15 Monate altes Baby bei sich hatte. Sie gab ihm in der Hitze ihr ganzes Trinkwasser«, erzählt die Frau. »So überlebte das Baby, aber die Mutter starb.«
    Die Welt sei hier immer durcheinander gewesen, sagt sie, egal wo die Grenze gerade entlanglief. Tatsächlich gibt es in der Region viele alteingesessene Familien mexikanischer Herkunft, die schon hier lebten, lange bevor das Land amerikanisch wurde. »Die haben nie eine Grenze überquert«, sagt sie. »In Wahrheit überquerte die Grenze sie. Es gibt legale und illegale Zuwanderer, sogar Grenzwächter und Schleuser, die aus derselben Familie stammen. Das ist verrückt.«
    Keine Ruhe für J. Doe
     
    Finden sich von den Wüsten-Toten Überreste, enden sie in weißen Plastiksäcken in den Kühlregalen des Klinikums von Tucson. Institutsleiter Bruce Parks, ein Mediziner in Schlips, Kittel und Gummihandschuhen, versucht dann im Auftrag des mexikanischen Konsulats, die Verstorbenen zu identifizieren. Im Vorraum zeigt er uns die letzten angelieferten Skelettreste: Schädel, Rippen, Hüft- und Schenkelknochen. Und beklagt die endlose Tragödie.
    »Wir reden hier in aller Regel über unschuldige Menschen, die lediglich in ein anderes Land wollten, um die Lebensverhältnisse ihrer Familie zu verbessern, sonst nichts«, sagt Parks, als er den Kittel an den Haken hängt. »Zeitweise mieteten wir schon zusätzliche Kühl-Lastwagen an, um alle Leichensäcke vorschriftsmäßig lagern zu können. Das ist nicht nur traurig, sondern beschämend.«
    Ein Assistent verschickt Proben des Schienbeinknochens jeder Leiche an ein DNA-Labor, das daraus den Gencode ermittelt. Die Ergebnisse erhalten Mexikos örtliche Konsularmitarbeiter, um sie mit den Vermisstendaten abzugleichen, die ihnen besorgte Familienangehörige und Hilfsorganisationen durchgegeben haben.
    An jenem Konsulatsschreibtisch finden wir einen freundlichen Beamten vor, umgeben von Namenslisten an den Wänden. Wir fragen, warum darauf so oft die gleichen Zeilen auftauchen: »John« und »Jane« als Vornamen, »Doe« als Familienname.
    »Wir klären höchstens zwei von drei Fällen auf«, sagt der Mann in brüchigem Englisch. »Alle anderen nennen wir John Doe, wenn es ein Mann, und Jane Doe, wenn es eine Frau war.«
    Als Erfolg gilt hier, wenn das Konsulat die Urne an die ermittelten Verwandten schicken kann. »Ich weiß selbst, dass das keine gute Nachricht ist, wenn der Bruder oder die Schwester umkam«, sagt er. »Aber die Familien haben dann wenigstens Gewissheit und finden irgendwann Ruhe.«
    In Pfarrer Hoovers Gottesdienst stellt die Gemeinde sonntags für jeden Toten des zurückliegenden Jahres ein Kreuz auf. Die

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