Wahnsinn Amerika: Innenansichten einer Weltmacht (German Edition)
Präsidentschaftskandidatin jeden Haushaltskompromiss ablehnt. Collender vergleicht die Abgeordneten mit Feldherren, die darauf verzichteten, in ihren Schlachten Kriegsgefangene zu machen, und deshalb mehr Opfer hinterließen. Er verstehe gut, warum Europäer sich die derzeitige US-Politik befremdet oder amüsiert ansähen. »Aber wir haben hier nun mal kein parlamentarisches System wie Sie«, sagt er. »Dort hätte es längst eine Vertrauensabstimmung gegeben. Hier schleppt sich eine Regierung gegen die Mehrheit oder die Sperrminorität durch bis zur nächsten Wahl.«
An welchen Wahlausgang er glaube, fragen wir.
»Die Antwort ist, dass keiner es weiß. In all den Jahren, in denen ich mich mit Haushaltspolitik befasse, gab es nie solch eine Konstellation. Ich halte es für möglich, dass sich die Republikaner spalten und eine dritte Partei entsteht. Die Ultrarechten sind wie ein Geist, der nicht mehr in die Flasche zurückkann. Mag sein, die Wähler sind da längst weiter. Sie sind zwar unzufrieden mit Obama, aber die Opposition kommt noch viel schlechter weg.«
Boehners Flugmanöver
Als das Jahr endet, bringen in Umfragen erstmals mehr Amerikaner dem Präsidenten Vertrauen in der Steuerpolitik entgegen als John Boehners Konservativen. Obamas Sympathiewerte steigen wieder. Der Kongress hingegen, den Boehner führt, sinkt in der Wählergunst auf Rekordtiefstände unter zehn Prozent.
Tatsächlich sind die Bürger nicht nur seit Monaten vom Hickhack im Parlament enttäuscht, sie machen inzwischen auch überwiegend die Republikaner dafür verantwortlich. Zudem hat eine neue soziale Bewegung vor allem junger Menschen deutlich gemacht, dass viele die wachsende Distanz zwischen den Top-Verdienern und dem Rest des Landes nicht mehr kritiklos hinnehmen wollen: die »Occupy Wall Street«-Aktivisten.
Zwar sind sie im Vergleich zur Tea-Party-Protestwoge nur eine kurz durchs Land schwappende Welle. Dennoch machen sie den Ultrarechten das Wutbürger-Monopol streitig. Manche Tea-Party-Anhänger bekunden sogar Sympathie für die linken Protestierer und bescheinigen ihnen eine moralische Berechtigung.
Zudem macht John Boehner, der im zurückliegenden Jahr Obama mehrfach zum Einlenken gezwungen hat, seinen ersten groben Fehler. Wie zwei Kriegspiloten im Luftkampf haben sich beide das Jahr über umflogen, immer bemüht, den anderen ins eigene Fadenkreuz zu zwingen. Dann, als Boehner sich an die Achtungserfolge schon gewöhnt hat, wird er übermütig. Als vor Weihnachten der Haushalt bis zum Herbst des Wahljahres 2012 endlich verabschiedet ist, der wieder einmal in letzter Minute die Zahlungsunfähigkeit der Regierung abwendet, lässt Boehners Mehrheitsfraktion überraschend einen zweiten Kompromiss schlicht platzen, der Steuerermäßigungen für die Mittelschicht um zwei Monate verlängern sollte. Die Schlachtordnung in jenem letzten Luftkampf des Dezembers war denkbar unübersichtlich. Zwar hatte sich auch Obama über den Minimalkonsens enttäuscht gezeigt und angemahnt, er erwarte vom Kongress bald eine weitere Verlängerung. Doch im Senat konnten sich Mehrheitsführer Harry Reid und Republikaner-Chef Mitch McConnell nur auf eine Finanzierung der Maßnahmen für jene zwei Monate verständigen.
Offenbar erneut von seinen Tea-Party-Rebellen getrieben, verlangt Boehner plötzlich Nachverhandlungen und fordert eine Lohndeckelung im öffentlichen Dienst und neue Limits beim Arbeitslosengeld. Prompt nutzt Obama die Gelegenheit, Boehner die übliche Blockadehaltung vorzuwerfen, die nun dazu führen könne, dass zum Neujahrstag für 160 Millionen US-Arbeitnehmer die Steuersätze stiegen. Nichts spreche dagegen, die Folgeverhandlungen erst nach den beschlossenen zwei Monaten zu führen.
Zudem übersieht Boehner, dass noch ein dritter Kampfpilot in der Luft ist: Mitch McConnell. Dessen Senatskollegen sind bereits im Weihnachtsurlaub und zeigen wenig Neigung, für Boehners Tea-Party-Rebellen die Feiertage in Washington zu verbringen. Zwei Tage vor Heiligabend wird Boehners Angriffsstaffel für alle sichtbar nicht nur von Obamas, sondern auch von republikanischen Abfangjägern zu Boden gezwungen. Es ist das erste Mal, dass John Boehner, den seine eigene Fraktion zur Jagd getrieben hat, offen kapitulieren muss.
Unabhängig vom Ausgang in der Sache, die so bedeutend gar nicht war, macht der Konflikt deutlicher als je zuvor, wie zerstritten die Republikaner sind. Der Aufwärtstrend, der Obama plötzlich zugeschrieben wird, macht sie
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