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Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Titel: Wahnsinn, der das Herz zerfrisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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besessen von den Empfindungen des eigenen Ich: »Von Lust vergiftet, ächzt er fast nach Qual/ Und sucht Veränderung, sei’s im Schattental.« Er interessiert sich nicht für Kirche und Moral und bereist Länder, von denen man durch den Krieg mit Napoleon fast völlig abgeschnitten war.
    Die »Pilgerfahrt« stand in der Tradition des englischen Reisegedichts, gewiß, aber statt idyllischer Abendlandschaften mit Kirchturm und Kuhglocke hörte man von den exotischsten Gegenden, von Kalifen, Derwischen, Wüsten und Wadis, von bis ins kleinste Detail beschriebenen Stierkämpfen in Spanien, von einem verzaubernden Griechenland, das gleichwohl unter der türkischen Fremdherrschaft ächzte. Die wilde Landschaft Albaniens und der Aufruf zum Widerstand gegen die Türken waren schon etwas ganz anderes als die heimatlichen Narzissen am See, die von der herrschenden Schule der »Seepoeten« so liebevoll beschrieben wurden!
    Was aber am meisten begeisterte und schockierte, war die radikale Hingebung an das Gefühl. Childe Harold wurde zum Ideal der jungen Männer, zum vergötterten Idol der Frauen. Seit Goethe in Deutschland »Die Leiden des jungen Werther« herausgebracht hatte, vor nunmehr über dreißig Jahren, hatte man Vergleichbares nicht mehr gesehen. Und dann die Entdeckung, daß die Beschreibung des Helden, des wilden Harold, genau auf seinen jungen Dichter paßte - die dunklen Haare, die bleiche Haut, der spöttische, herausfordernde Blick: Byron war Childe Harold, und die englische Aristokratie warf sich ihm zu Füßen.
    Es hagelte Briefe von Verehrerinnen, die um eine Begegnung, eine Haarlocke, einen einzigen Blick flehten. Erschien Byron auf einer Gesellschaft, durchquerte er langsam einen Salon in der geschmeidigen, gleitenden Gangart, die er sich angewöhnt hatte, um seine Behinderung zu verbergen, so richteten sich sofort alle Augen auf ihn.
    Die Regentschaft des Prinzen hatte Byron in England den Boden bereitet. Erlaubt war, was gefiel. Während alle weiblichen Wesen den aus Frankreich kommenden klassizistischen Stil nachahmten, richtete sich ein Gentleman (oder wer dafür gehalten werden wollte) streng nach den Anweisungen des großen Dandys Beau Brummel.
    Ein hoher Kragen, sagte Brummel, so hoch, daß das Gesicht darin verschwand, wenn man den Kopf neigte; darum eine blütenweiße, locker geschlungene Krawatte, die unter keinen Umständen Falten werfen durfte. Die Weste zum Frack durfte gelb oder rosenholzfarben sein, niemals aber grün oder gar erdbraun.
    Die Hosen (glücklich diejenigen, die eine entsprechende Figur besaßen) mußten maßgeschneidert sein, hauteng und taillenbetont. Unbedingt hohe Stiefel, mit einer aus Champagner hergestellten Schuhwichse blank poliert, und ein aus Weißdornholz bestehender, silberbeschlagener Spazierstock vervollständigten das Bild, in dem natürlich Ringe in diskreter Zahl und eine geschmackvolle Uhrenkette auch nicht fehlen durften.
    Ein solchermaßen gekleideter Herr von Stand mußte, um akzeptiert zu werden, drei Bewährungsproben bestehen: Beau Brummels Billigung war zu erlangen (als höchste Ehre galt die Frage nach dem Schneider, die allerdings auch in eine hinterhältige Kränkung umschlagen konnte), der Lustspieldichter Sheridan mußte seine Konversation amüsant und die Kokotte Harriet Wilson seine Art charmant finden. Gelang all dies, dann war dem Glücklichen hohes Ansehen sicher, und er konnte beginnen, sich nach einer Mätresse umzusehen.
    Seine Wahl sollte dabei entweder auf eine Schauspielerin oder Sängerin, vorzugsweise aus Frankreich, fallen oder auf eine verheiratete Frau - niemals aber auf ein junges Mädchen von Stand. Entschied er sich für eine verheiratete Frau, dann mußte er nur eines tun, um nicht unangenehm aufzufallen: diskret sein.
    Indiskretion war die einzige Sünde, die diese Gesellschaft nicht verzieh. Sie erinnerten an schöne, nur für einen Sommer bestimmte Schmetterlinge, diese Damen und Herren, die von Fest zu Fest flatterten und sich nun alle um ein neues Licht scharten, ein vierundzwanzigjähriges Idol, dem sie die Welt zu Füßen legten und das sie auf ein Podest von zerbrechlichem Porzellan stellten.
    Seinen größten Triumph erlebte Byron, als ihn die Edinburgh Review, deren Verriß ihn seinerzeit zu einer Satire angeregt hatte, mit Shakespeare verglich - ein Vergleich, dem die gesamte literarische Welt enthusiastisch zustimmte. Und das alles wegen Childe Harold! Londons vormalige Dichterhelden sahen sich auf höchst

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