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Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Titel: Wahnsinn, der das Herz zerfrisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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es meiner ist, daß ich ein besseres Paar Beine bekommen werde….da ich ansonsten arg zurückbleibe bei dem Gedränge im Paradies.«
    Nein, er glaubte nicht, daß ihn und Augusta ein himmlischer Blitzschlag treffen würde; wie, zum Teufel, war die Menschheit nach den Lehren eben dieser Kirche denn entstanden? Er und Gus, sie liebten sich, gerade weil sie Geschwister waren, und nicht trotzdem - dieses neue Element, das in ihre Beziehung getreten war, war nichts als eine Bestätigung ihrer natürlichen Liebe zueinander.
    Aber wenn Augusta das nun anders sah?
    Er verbrachte eine schlaflose Nacht und fuhr Fletcher am nächsten Morgen wegen der geringsten Kleinigkeiten an, womit er seinen Diener fast zur Verzweiflung trieb. Fletcher war den Tränen nahe, als Byron schließlich wütend erklärte: »Ich gehe in den Club - hier kann man es ja nicht mehr aushalten!«
    Sprach’s, hinkte hinaus (wenn er sich schnell bewegte, ließ sich seine Behinderung nicht mehr verbergen) und warf die Tür hinter sich zu. Draußen blieb er stehen, schloß die Augen und holte tief Luft, als er eine Stimme sagen hörte: »Guten Morgen, Byron - du siehst furchtbar aus.« Er öffnete die Augen wieder und lächelte. »Du siehst wundervoll aus. Guten Morgen, Augusta.«
     
    Jetzt war es für sie Entzücken und Qual gleichzeitig, in Gegenwart Fremder zusammen zu sein. Sie entwickelten eine Art Geheimsprache, die außer ihnen niemand verstehen konnte, und es bereitete ihnen ungeahntes Vergnügen, sie vor aller Augen anzuwenden. Bei einer Begegnung mit Lord Holland, als sie einen Spaziergang machten, zeichnete Byron scheinbar zerstreut mit seinem Stock ein Kreuz in den Straßenstaub. Oder er entgegnete auf eine Frage von Mrs. Villiers nach seinen Lieblingstieren:
    »Gänse, ganz entschieden Gänse.«
    Mrs. Villiers, die mit Augusta befreundet war, quiekte enttäuscht auf. »Wie unpoetisch, Lord Byron! Aber natürlich«, fuhr sie hoffnungsvoll fort, »Sie scherzen?«
    »Keineswegs«, versetzte Byron unerschütterlich, »es ist mein völliger Ernst.
    Das Geschnatter bezaubert mich so sehr. Obwohl ich als Poet selbstverständlich überhaupt keine Lieblinge haben und neutral bleiben sollte.« In seinen Augen tanzten Funken, als er sich seiner Schwester zuwandte und sie fragte: »Hast du eigentlich irgendwelche Favoriten unter deinen Kindern, Augusta?«
    »Sicher«, antwortete sie ruhig. »Das große Kind mit den Initialen B. B.«
    Als sie im Hyde Park mit dem Dramatiker Sotheby zusammentrafen, wandte sich dieser eifrig an Byron. »Byron, Sie gehören doch dem Drury-Lane-Komitee an - wie stehen die Aussichten, mein neues Stück aufführen zu lassen?«
    »Sotheby«, sagte Byron und bemühte sich um eine angemessen würdige Haltung,
    »Sie haben uns bis jetzt jedes Ihrer Stücke geschickt und verlangt, daß wir es aufführen lassen. Haben Sie eine Ahnung, wie viele es inzwischen sind?« Sotheby glich normalerweise auffallend einem Engelskopf von Botticelli. Jetzt jedoch schienen die vollen Wangen einzufallen, und der Schmollmund kehrte stärker hervor. »Aber diesmal handelt es sich um eine ganz besondere Tragödie mit einem wahrhaft erhabenen Thema - ein biblisches Thema, Byron.«
    Augusta machte ihr unschuldigstes Gesicht. »Herodes vielleicht, Mr. Sotheby? Irgend jemand hat mir einmal gesagt, Herodes sei ein wirklich bewundernswerter Charakter.« Sotheby fuchtelte entsetzt mit den Händen in der Luft herum. »Um Gottes willen, nein. Herodes ist ein Unhold, ein brutaler Tyrann, der…«
    »Jetzt kommt es mir auch so vor, als hätte ich das verwechselt«, unterbrach Augusta sanft und freundlich, »seit einigen Tagen werde ich immer vergeßlicher. Das müssen die endlosen Soirees sein - die abgestandene Luft, Sie verstehen. Finden Sie es nicht auch gut, sich bei solchen Gelegenheiten manchmal etwas früher zurückzuziehen?« Sotheby, aus dem Konzept gebracht, nickte abwesend. »Gewiß, gewiß. Also, Byron, würden Sie mein Stück…«
    Als der arme Sotheby sich endlich entfernt hatte, murmelte Byron: »Gänschen, ich bin ernsthaft böse auf dich. Du bist hinterhältig.« Sie ließ die Unterlippe hängen und verzog ihr Gesicht zu einer tragischen Clownsmaske. »Und was bist du, mein lieber? Bösartig ist noch zu schwach dafür - fragst die arme Lady Holland, ob sie bei einer Soiree gewohnheitsgemäß ihre Haare neu aufstecken muß!«
    »Ich liebe dich.«
     
    Doch es gab auch die Augenblicke völligen Alleinseins, flüchtige, verstohlene Stunden, die ihnen

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