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Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Titel: Wahnsinn, der das Herz zerfrisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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wie allen Liebenden viel zu kurz erschienen. Einmal wollten sie ausreiten, aber das Wetter machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Augusta schauderte, als sie aus dem Fenster von Byrons Bibliothek blickte.
    »Nun, es war in der letzten Zeit zu schön, um wahr zu sein.«
    Wie bei ihrem ersten Besuch ließ sie sich auf dem Fußboden nieder. »Ich hatte ein paar Äpfel mitgebracht, für unterwegs - möchtest du?« Ihr Bruder nickte und setzte sich zu ihr.
    Sie hauchte gegen die Frucht und polierte sie mit ihrem Taschentuch. Dann warf sie den Apfel Byron zu. Er kaute eine Weile und sagte träumerisch: »Das erinnert mich an den Tag vor meiner Abreise nach Spanien. Damals dachte ich wirklich, die Sintflut kommt wieder - du kannst dir vorstellen, wie froh ich war, dieses Nebelloch von Land zu verlassen. Ich kam mir mindestens wie Marco Polo vor, mit einem Schuß Columbus dazu, unterwegs in die Länder der Sonne.« Augusta fragte in plötzlicher Einsicht: »Das war es, was du wirklich wolltest, nicht wahr - Marco Polo sein. Fremde Welten entdecken.« Er zuckte die Achseln und wickelte sich eine ihrer braunen Locken um den Finger. »Vielleicht. Hör auf, meine Gedanken zu lesen, Gans.«
    Sie legte ihm sachte die Hand auf den Nacken. Das war die Stelle, die sie an ihm am meisten liebte, verwundbar und ungeschützt. »Ich wünschte, ich hätte mit dir gehen können - damals.
    Ich hätte so gerne das Mittelmeer gesehen, die griechischen Inseln…« Sie seufzte. Byron betrachtete ihr Profil in der dämmrigen Beleuchtung. Wie hatte er sich nur jemals einbilden können, in Mary Chaworth verliebt zu sein, oder in irgendeine nach ihr? Sie schienen ihm alle nur verzerrte Spiegelbilder zu sein, Phantome, die er auf der unbewußten, verzehrenden Suche kurze Zeit für Wirklichkeit genommen hatte. Dabei hatte er die Wirklichkeit immer gekannt - und nun wußte er, daß er ohne sie nicht mehr leben konnte. Aber wie konnte er mit ihr leben?
    »Augusta«, sagte er jäh, »wenn ich wieder dorthin zurückkehren würde, ans Mittelmeer… würdest du dann mit mir gehen?«
    Sie antwortete nicht, und seine Stimme wurde hastiger, drängender. »Wir könnten nach, Italien gehen - oder, wenn dir das lieber ist, auf die griechischen Inseln. Du weißt nicht, wie schön es dort ist. Sonne und Zikaden und heißer Kalkstein, der aussieht wie glühendes, erstarrtes Licht. Und das Meer, Gänschen - nicht so wild wie hier, eine spiegelnde blaue Fläche. Sag, würdest du?« Vielleicht war es der trommelnde Regen, der sie in eine traumähnliche Inselatmosphäre versetzte, vielleicht seine Stimme, vielleicht… Sie stand auf und sah ihn an. »Ja, das würde ich.« Zwei Tage später mußte sie nach Six Mile Bottom zurückkehren.
     
    Als sie ihre Kinder begrüßte und in die Arme schloß, kam ihr alles fremd vor, als hätten die drei Wochen in London Augusta zu einer anderen Person werden lassen. Es konnte auch daran liegen, daß sie seit dem Versprechen, ihrem Bruder in das Ausland zu folgen, entschlossen jeden Gedanken an die Kinder verdrängt hatte. Die trügerische Vision eines endlosen Sommers stand ihr vor Augen, frei von Geldsorgen, nächtelangem Grübeln und Suchen nach einer neuen Ausflucht für die Gläubiger, frei von - sie senkte den Kopf und schmiegte ihre Wange an den Hals der kleinen Augusta, atmete den Geruch des sauberen, süßen Kinderkörpers ein.
    »Mamée«, sagte Georgiana, »Mamée, du hast uns gefehlt.« Sie war jetzt fünf Jahre alt, und in ihrer hohen, selbstsicheren Stimme schwang ein vorwurfsvoller Ton mit. Oder bildete sie sich das nur ein? Augusta lachte und nahm der Nanny das Baby Henry ab. »Ihr habt mir auch gefehlt - oh dear, ihr seid in den drei Wochen tatsächlich gewachsen! Ich glaube fast, ihr könnt mich diesmal schlagen!« Die kleine Augusta quietschte vor Vergnügen, doch Geogiana konnte inzwischen weiter denken und runzelte die Stirn. »Aber Mamée, das ist nicht fair. Du bist größer als wir!«
    »Ihr habt kein Baby im Arm!« gab Augusta zurück und rannte mit fliegenden Röcken zur Eingangstür, den glucksenden Henry an sich gepreßt, ohne auf den Protest der Nanny zu achten.
    Es war ein Spiel, das sie zunächst nur eingeführt hatte, um Augusta Charlotte ihre Scheu vor schnellen Bewegungen zu nehmen: ein Wettlauf von der Pforte bis zu dem Gatter, das die Einfahrt nach Six Mile Bottom begrenzte. »Was, ihr seid noch nicht da? Georgey, du bist die Älteste, du gibst das Signal, aber wehe dir, wenn du

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