Wahnsinns Liebe
das Streichquartett für ein Meisterwerk halte. Auch wenn ich’s nicht verstehe. Aber ich bin alt, er ist jung und ich vermute, er hat recht mit dem, was er vorhat. Nur: was hilft’s, was ich denke?«
Er rollt die Zeitung wieder auf, liest halblaut. »Schließlich kam Herr S. selber und schüttelte den fünfzehn Mitwirkenden gerührt die Hand. In einer Loge stand bleich und mit verkniffenen Lippen Herr Hofoperndirektor Mahler, der das hohe Protectorat über entartete Musik schon seit längerer Zeit führt. Festzustellen wäre nur das Eine: Herr S. ereignete sich in Wien, |122| in der Hauptstadt ewiger und unvergeßlicher Musik. Tut es niemandem mehr weh, daß gerade hier die pöbelhaftesten Manieren, Lärm zu machen, heimisch geworden sind? Er macht wilde, ungepflegte Demokratengeräusche, die kein vornehmer Mensch mit Musik verwechseln kann. Aber der Spuk wird vorübergehen; er hat keine Zukunft, kennt keine Vergangenheit, er erfreut sich nur einer sehr äußerlichen und armseligen Gegenwart.« Mahler legt die Zeitung schicksalsergeben weg und beginnt seinen Apfel zu schälen. »Wenigstens haben sie nichts von der Schlägerei geschrieben, die Moll gerade noch verhindert hat.« Er seufzt. »Also auch wenn es wenig intelligent ausschaut, es hat schon seine Vorteile, ein Hüne zu sein …« Der Apfel wird geviertelt und entkernt. »Wie will Schönberg denn wieder auf die Beine kommen?«
»Was ihn am Leben hält, ist sie.« Zemlinsky putzt die verschmierte Brille mit der benutzten Serviette. »Ich weiß nur nicht, woher sie die Kraft nimmt.«
»Ich schon.« Webern steht plötzlich am Tisch. Er hat die letzten Sätze noch mitgekriegt. »Dieser Verrückte, der oft bei unseren Treffen dabei ist …«
Zemlinsky zieht ihn auf den freien Stuhl. »Ach was. Der doch nicht. Der betet Schönberg doch an wie einen Abgott. Nachts, nach dem Skandal gestern, ist er noch aufgekreuzt und hat ihm die Pistole weggenommen, weil Mathilde Angst hatte. Und nach der Katastrophe vor drei Tagen hat er ihm einen Brief geschrieben, das größte musikalische Genie des neuen Jahrhunderts dürfe doch nicht von den Zinnen springen, nur weil die Köter unten an den Turm pissen.«
Webern schweigt.
»Und ich sage dir eins, ohne diesen Verrückten wäre |123| Mathilde auch schon am Ende. Wie soll denn bitte eine Frau von nicht mal dreißig das sonst alles aushalten? Die braucht auch mal ihre Ablenkung zwischen Geld zusammenbetteln, den depressiven Ehemann trösten und Kinderärsche putzen. Wozu kann so eine Frau jede Liszt-Sonate vom Blatt spielen?« Zemlinskys Adamsapfel hüpft noch weiter, als er aufhört zu reden.
»Ich traue ihm nicht.« Webern öffnet die Lippen kaum beim Reden. »Es heißt, der Kerl sei wahnsinnig. Ein Bekannter von mir, dessen Onkel Stationsarzt in der Psychiatrie ist, hat den Gerstl erst kürzlich dort rauskommen sehen. Und dieser Onkel hat gesagt: ›Der Gerstl? Ach, den kenn ich schon lang. Schon seit fünfzehn Jahren, als er noch ein Kind war.‹«
Zemlinsky sieht ihn streng an. »Webern, du solltest nicht anfangen, in der Kloake herumzurühren. Das gibt Spritzer auf deine nette Weste.«
»Ich sage nur«, sagt Webern und sprüht beim Sprechen Speichel, »daß ich es infam finde, ein unschuldiges ahnungsloses Genie im Glauben zu lassen …«
Zemlinsky lächelt müde. »Ach, was heißt da ahnungslos. Schau, unser Schönberg, der hat auf seinem Schreibtisch eine sehr scheußliche Bronze stehen. Drei Affen. Einer hält sich die Augen, einer die Ohren und einer den Mund zu.«
»Ich rede nicht von Nippes, ich rede von Betrug.« Webern wird lauter.
Zemlinsky überhört ihn. Wenn jemand laut wird, überhört er das immer. »Und als Loos ihn, also meinen Schwager, mal gefragt hat, warum er seinen Arbeitsplatz mit diesem Monstrum verschandelt, da hat er gesagt: ›Das sind drei jüdische Männer namens Schönberg, |124| Mahler und Zemlinsky: Die wollen nichts sehen, nichts hören und nichts sagen.‹«
Mahler fummelt an seinen Nägeln herum. »Ah so? Er hat damit nicht nur den unübersehbaren, unüberhörbaren Antisemitismus gemeint, der sich in der Stadt breitmacht? Und gegen den keiner von uns laut protestiert, kein einziger?«
Zemlinsky schaut Mahler mitfühlend an. Er kennt Alma besser als jeder andere, ihn hat sie ja auch gequält wie eine Katze die schon halbtote Maus. Und vor seinen Ohren hat sie ihrem Mann erklärt, sie hätte darauf achten sollen, daß sie schon in der ersten Phase der Verliebtheit seinen
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