Wahnsinns Liebe
überall heißt: Der Moll hat Gespür, der Moll hat Mut.« Gerstl schiebt den fast vollen Teller von sich. »Neben die Bilder von van Gogh haben Sie ja auch nicht irgendwelche Gefälligkeitspinsler gehängt. Irgendeinen Makart. Ein Interieur von dem hätte mit seinem parfümierten Mief die Frische über jedem Kornfeld verpestet. Also haben Sie es bleibenlassen.«
Moll kratzt in seinem Vollbart. Und Frau Moll legt ihre teigige Hand auf Gerstls knochige: »Herr Gerstl, Sie wissen doch, daß mein Mann und Klimt und auch Paul Bacher, dem die Galerie gehört, uralte Freunde sind. Das macht …«
»Das macht«, sagt Gerstl und entzieht ihr die Hand, »die Sache erst richtig peinlich. Weil es beweist, daß Liebe blind macht. Eine Sorte Liebe, die mir zuwider ist. Ich setze auf Liebe, die scharfsichtig macht.«
Die Geräusche der Gabeln und Löffel sind lauter als nötig.
»Mögen Sie keine Buchteln?« fragt Frau Moll.
»Zu süß und zu gut für einen wie mich«, sagt er.
Alois übernimmt den Teller seines Bruders und schenkt Frau Moll einen Blick von unten.
»Ist er eigentlich immer so … so schwierig?« fragt Frau Moll, als wäre Gerstl gar nicht da.
»Ich bin nur schwierig für Menschen, denen ein schleimiger Handkuß lieber ist als eine klare Meinung.«
Moll steht auf und geht wortlos hinüber zu seinen Frühbeeten hinter der kniehohen Mauer, die Terrasse und Nutzgarten trennt, wo Bohnenstangen, junge |134| Tomatenstauden und Ribiselsträucher stehen, wo schon Salat und Radieschen gedeihen, Schnittlauch und Dill und unterm Glasdach die ersten Gärtnergurken. Nur sein gebeugter Rücken ist zu sehen.
Am Tisch hat sich das Schweigen mittlerweile so weit ausgedehnt, daß keiner mehr über den Graben springen will.
Eine Tulpenblüte in der Hand kommt Moll zurück. »Es tut gut, sich um etwas zu kümmern«, sagt er, ohne Gerstl anzusehen, und setzt sich. Er legt die Tulpe, die gerade an jenem Punkt ist, wo sich in der vollen Blüte bereits das Welken ankündigt, neben seinen leeren Teller. »Sie sind am schönsten, wenn sie nicht mehr prall und jung sind. Da sind sie so unzugänglich. Ich liebe sie, wenn sie gelebt haben, wenn sie Spuren tragen von jedem Tag …«
Gerstl lächelt ihn an. Es ist ein offenes, überraschtes Lächeln. »Sie haben ja doch einen Sinn für wirkliche Schönheit. Denselben wie ich.« Nun beugt er sich über den Tisch mit den leergegessenen klebrigen Tellern.
»Vorsicht, Ihr Ärmel«, sagt Frau Moll.
Schon ist das Lächeln aus Gerstls Gesicht verflogen. Er starrt Moll an, der weiter nur auf seine Blüte schaut. »Verstehen Sie – deswegen kann ich diesen Klimt nicht leiden. Er malt reife Frauen, die schön sind, weil sie reif sind. Und was macht er mit ihnen? Er bringt sie um. Er erstickt ihr Leben im Ornament. Er macht sie zu Opfern seines Stils. Nimmt ihrem Körper die Schwere, ihrem Fleisch das Mürbe, ihrem Blick das Erfahrene, ihrem Mund das Schmerzliche, ihrem Lächeln das Wunde – und was bleibt übrig? Leere blöde Larven.«
Moll schaut immer noch auf die Tulpenblüte. Alois zieht seine Uhr aus der Tasche und zieht sie auf.
|135| Frau Moll streicht von den Schläfen aus nach oben über ihr hochgestecktes Haar. »Ich kenn das, mein Schwiegersohn hat sich auch bei mir beschwert, als er die Alma geheiratet hat, daß ihr Gesicht nichts Verlittenes hätte. Verlitten mit dreiundzwanzig, ich bitte Sie. Ich habe nur gesagt« – sie reckt den Hals, um ihr zweites Kinn zu glätten – »das kommt schon von allein, Mahler, das erledigt das Leben.«
Gerstl starrt sie an. »So, der Mahler hat das gesagt …«
Anna Moll stellt die Teller zusammen und legt die Löffel in die ausgekratzte Reine. Sie sieht Gerstl nicht an. »Aber gibt es denn eine Frau, der Sie durch Ihre Treue beweisen, was Sie sagen? Daß Sie keine hübsche Larve suchen, sondern eine …«
»Es gibt sie«, sagt Gerstl zu der Tulpenblüte neben Molls Teller.
»Und dürfen wir wissen …?« Frau Moll hat sich wieder hingesetzt und legt den Kopf schief. »Ich meine, man sieht Sie ja nie in weiblicher Begleitung. Nur im Konzert mit der unscheinbaren Frau Schönberg, und das kann ja wohl kaum …«
Gerstl steht auf, sein Stuhl fällt krachend auf den Steinfußboden der Veranda. Er dreht sich um und sagt, während er den Stuhl aufhebt, den Rücken zu den Gastgebern gewendet: »In dieser Stadt, wo Geheimnisse öffentlich seziert werden, ist Ihre Frage obszön, Frau Moll. Schlicht obszön. Sie hatten doch auch Gründe,
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