Wahnsinns Liebe
könnte. Also auf Dauer. Dieser Gerstl, der ist ja noch schwieriger und – Entschuldigung, Arnold ist mein Freund – für viele noch unausstehlicher als ihr Mann. Schönberg legt sich mit jedem dritten an. Aber dieser Gerstl mit jedem.«
»Stimmt«, sagt Zemlinsky. »Sein Leitspruch heißt: Ich lasse mir von niemandem etwas sagen.«
Altenberg schüttelt mitleidig den Kopf. »Nein, nein, meine Lieben, das ist doch aus Mathildes Warte kein Argument – daß dieser Gerstl dauernd reizbar und angriffslüstern ist. Im Gegenteil: Ich vermute, sie genießt es deswegen erst recht, wenn er bei ihr dann lammfromm ist und nicht an ihr herumkritisiert wie an allen anderen.«
|203| »Dabei gäbe es da ästhetisch vieles zu kritisieren, sehr vieles«, sagt Loos.
»Ja, für dich schon. Du würdest sie zurechtschnitzen. Aber er, er sieht sie anders. Nicht so wie du oder ihr Mann oder die anderen Männer.«
»Ein blinder Maler?«
»Nein«, sagt Altenberg. »Einer wie der sieht genau. Verdammt genau. Jede Falte, jede schlaffe Stelle, jede Delle im Schenkel. Aber er mag es. – Einen Débardeur bitte, lieber Jean. – Der sieht auch genau, was passieren wird, wenn er es sich mit Schönberg verdirbt.«
Zemlinsky schaut ihn wachsam an. »Dann muß er wissen, daß er gelyncht wird von diesem Freundeskreis – auch seinem, seinem einzigen, soviel ich weiß.«
»Weiß er«, sagt Altenberg. »Weiß er mit Sicherheit. Aber der ist ein radikaler Mensch, dieser Gerstl. Genauso radikal wie Arnold.« Er grinst. »Offenbar sind auch Frauen in gewisser Hinsicht Wiederholungstäter.«
Zemlinsky räuspert sich. Es klingt ungesund, aber er lächelt beruhigt. »Mein Gott, warum komme ich jetzt erst darauf? Loos, Sie haben in gewisser Hinsicht recht: Mein Schwager ist sich wahrscheinlich wirklich sicher, daß sie niemals ihre Ehe aufs Spiel setzen würde. Aber aus einem anderen Grund.«
Paffend schaut er in die Runde. »Sie haben ja alle keine Kinder. Ich habe jetzt eins. Und ich weiß, was Mutterliebe ist.«
Alle atmen tief durch. Webern legt den Bleistift zur Seite. »Soll ich noch eine Flasche bestellen?« Erlöstes Nicken.
Nur Altenbergs Stirn bleibt gerunzelt. »Ihr macht eure Rechnung ohne Mathilde. Eine Frau, die sich |204| einbildet, sie hätte die wahre Liebe entdeckt, ist unberechenbar, meine Guten. Völlig unberechenbar.«
Ohrenbetäubendes Scheppern zerreißt die Stille. Alle ziehen den Kopf ein, bis der Lärm verklingt.
»Sie haben recht«, sagt Webern erschöpft. »Wenn wir nicht verhindern, daß dieser Gerstl mitkommt, garantiere ich eine Katastrophe.«
Der Zahlkellner Jean stellt sich neben Altenberg. »Gerade habe ich es erfahren – Entschuldigung, aber ich habe mich herumgedreht und den ganzen Stapel Kühler umgeschmissen. Sie haben sie aus der Donau gezogen. Anscheinend hat sie sich heute nacht umgebracht. Es heißt, weil man ihr verboten hat, den einzigen Mann, den sie liebt, zu heiraten.« Er stellt den Débardeur, ein dunkles Brot, belegt mit Sardinen und Kaviar, vor Altenberg ab, der es dankbar betrachtet. Es braucht deswegen eine Weile, bis Jeans Mitteilung bei ihm ankommt.
»Halt, langsam: Wer ist ins Wasser gegangen?«
»Na ja, die Mizzi, die Mizzi von Veith. Sie wissen doch, Herr von Altenberg, Sie kennen sie doch, und sogar der Herr Loos … «
Loos schaut den Kellner verärgert an. »Was belästigen Sie uns hier mit Nachrichten, die keinen was angehen. Diese Mizzi Veith.«
»Ich hab nur gedacht«, sagt Jean mit einer kleinen Verbeugung, »daß Sie das interessieren könnte. Weil ich mitkriege, daß hier dauernd von Frauen und Liebe und Katastrophen die Rede ist, und irgendwie gehen die Geschichten immer wieder so ähnlich aus, und der Herr von Altenberg sammelt doch Geschichten.«
Altenberg hebt den Kopf zu ihm, was ihn offensichtlich anstrengt. »Sie haben schon recht, Jean, alles spiegelt |205| sich, sagt der Weininger. Oder hat das dieser Gerstl gesagt?«
Webern schaut ernst. »Liebe Freunde von Schönberg. Wir sitzen hier« – er zieht seine Uhr heraus – »seit bald einer Stunde und haben keine Lösung gefunden. Was können wir tun, um die Katastrophe zu verhindern?«
Keiner rührt sich.
»Nichts«, sagt Altenberg. »Absolut nichts.« Er widmet sich seinem Brot, schneidet von den Sardinen hier und dort etwas weg, entfernt winzige Gräten, pflückt die Petersiliendekoration vom Brot und fängt langsam an zu essen. Erst, als er den ersten Bissen des Brots gründlich gekaut und vertilgt hat,
Weitere Kostenlose Bücher