Wahr
das Annas Mutter geboren hat und in gewisser Weise auch sie selbst. Dieser erschreckend plausible und logische Gedanke durchbohrt Anna völlig unvorbereitet: Leben gebiert Leben, und Leben gebiert Tod.
Ihre Großmutter spürt nichts von diesem Gedanken. Auf einmal, ohne Vorwarnung, sagt sie: »Ich habe über dich nachgedacht. Was ist eigentlich los bei dir? Oder was war los, im letzten Jahr? Wir hatten nicht besonders viel Kontakt in dieser Zeit. Aber ich weiß, dass deine Mutter sich Sorgen gemacht hat.«
Anna wendet sich ab. Es ist leicht, woanders hinzuschauen, zu den Apfelbaumblüten, der Kletterrose an der Hauswand. Bald wird auch die erblühen, und alles geht wieder von vorne los.
Ihre Großmutter lässt nicht locker. »Was ist da passiert?«
Anna greift hektisch nach dem Käse, das Messer fällt scheppernd zu Boden. Vor Schreck verschüttet sie den Wein. Er rinnt zwischen Daumen und Zeigefinger hindurch, als würde er sein Ziel genau kennen. Der Fleck breitet sich schnell auf dem Kleid aus. Wenn man ihn nicht sofort mit Salz bestreut, wird er bleiben.
»Irgendwas hat schon länger nicht gestimmt, habe ich recht?«, fragt ihre Großmutter.
»Mist, jetzt habe ich das Kleid versaut«, schimpft Anna. Sie balanciert zitternd das Glas.
Ihre Großmutter schaut sie scharf an. »Das ist doch egal. Es ist nur ein Kleid.«
»Aber es gehört dir, und jetzt habe ich den Stoff ruiniert! Soll ich nicht schell Salz von drinnen holen?«
Ihre Großmutter sieht durch sie hindurch. Sie öffnet die Lippen, als wollte sie etwas sagen, schließt sie dann, fokussiert ihren Blick wieder auf Anna und sagt schließlich doch, was sie sagen wollte. »Das Kleid gehört gar nicht mir.«
»Wem denn?«
»Eeva. Ich habe nicht gewusst, dass es all die Jahre hier im Schrank hing. Seltsam, es plötzlich an dir zu sehen.«
Sie sagt den Namen gelassen, mit einer besonderen Ruhe, als spräche sie von einem Menschen, der lange fort war, mit dem sie aber früher durchaus glückliche Tage verbracht hat, sich lebenslange Freundschaft geschworen hat, bis irgendwann, aus Zufall oder einer Laune oder aus einem dummen Missverständnis heraus, die Verbindung abbrach.
» Wie hieß sie?«
»Eeva«, wiederholt ihre Großmutter.
6.
DER TAG WAR warm. Gleich unten an der Haustür brandete ihm die Welt entgegen. An der Straßenbahnhaltestelle lungerte eine Gruppe von Jungen herum, angeberische Fünfzehnjährige. Etwas entfernt wartete ein Mädchen, siegesgewiss gleichgültig, das Standbein durch gedrückt, das andere lässig abgespreizt. Es schaute auf die Gleise und war eindeutig eine Klassenkameradin der Jungen.
Wieder eines dieser Schauspiele, bei dem es zunächst um Aufmerksamkeit, aber eigentlich um einen noch viel höheren Gewinn ging. Für welchen der Jungen interessierte sich das Mädchen, wen wollte es? Vielleicht den stillsten, weich aussehenden, der einen dünkelhaften Ernst in sich trug. Genauso war Martti als Junge gewesen. Zwar schnell für Unfug zu haben, doch insgeheim sensibel und scheu, phasenweise in romantische Düsternis versunken.
Wie oft hatte er Helvi gemalt, die in seiner Klasse in der ersten Reihe saß, ihr in den Pausen die Zeichnungen schüchtern in die Hand gedrückt. Helvi mit der großen Klappe, in die er sich aus einer sonderbaren Laune heraus verliebt hatte. Vielleicht, weil Mädchen wie Helvi einen Jungen wie ihn gar nicht erst beachteten – das hatte ihm ungestörte Verehrung garantiert.
So war auch dieser Junge. War das Mädchen auch eine Helvi? Nein. Sie war warmherziger.
Noch fünf Minuten, bis die Bahn nach Meilahti kam. An der Sporthalle würde er umsteigen und folgsam zum Arzt gehen, wo man ihm mit Tests und Messungen die Maske des Alters anlegen würde. Siebzig Jahre, mehr sogar. Fast unbemerkt hatten sie sich angehäuft. Eines Morgens wacht man auf und stellt fest, dass man alt ist. Betritt die Straßenbahn und bekommt einen Platz angeboten. Ich bin nicht körperbehindert, denkt man. Und als Nächstes: Aber ich bin alt.
Die Jungen drehten auf. Einer betrat die Gleise, um die Aufmerksamkeit des Mädchens zu erwecken. Der Eitelste unter ihnen machte eine lässige Tanzbewegung, die Martti an die Zeitlupen einer Fernsehdokumentation über balzende Vögel erinnerte. Die gleichen Hüpfer wie die von Tänzern, die allerdings jahrelang dafür üben mussten. Genauso geschliffen, selbstsicher und energiegeladen. Das Mädchen grinste und zeigte dem Jungen den Mittelfinger, die Geste war in ihrer Derbheit
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