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Wahr

Wahr

Titel: Wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Riikka Pulkkinen
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fast ergreifend. Wieso Zeit verschwenden, wenn man doch hingehen und sich küssen könnte?
    Die Straßenbahn kam, die Jugendlichen drängten durch die hinterste Tür. In der Mitte der Bahn saß eine freundlich, etwas bieder aussehende Familie, Vater, Mutter und zwei Söhne. Der Vater hielt den jüngeren an der Hand. Beide Söhne waren rührende Kopien seiner selbst: blonde Locken, ein geduldiger Blick, X-Beine, dickliche Hände.
    Martti dachte: Wohin es uns auch führt, wir tragen immer unsere Herkunft mit. Er selbst hatte die Nase seines Vaters. Der war im Fortsetzungskrieg gefallen, Weihnachten 1943. Nur ein Klingeln an der Tür; Martti hatte gefragt, ob es der Weihnachtsmann sei. Doch draußen standen der Dorfpastor und zwei junge Soldaten. Seine Mutter sank im Flur nieder, das Dienstmädchen zerrte ihn und seine Schwester weg, damit sie die Szene nicht sahen. Er erinnerte sich an die Worte der Soldaten und das überraschende Aufbäumen seiner Mutter: »Fort hier, haut ab.«
    Über diesen Tag durfte nicht gesprochen werden. Nicht über den Pastor, nicht über den Zusammenbruch seiner Mutter, schon gar nicht über seinen Vater. Es hatte zwar nie ein offizielles Sprechverbot gegeben, aber er wusste, dass dieser Tag und der Schmerz der Erinnerung in Schweigen gehüllt werden mussten. So begannen sie, Pausen in ihre Gespräche einzubauen, und zwar immer dann, wenn man eigentlich den Vater erwähnen wollte. Mit den Jahren hatte die Gegenwart diese alte Wunde zugenäht, hatte das Schweigen sie wie mit einer Mullbinde verbunden, die Zeit sie umhüllt. Ein sonderbares Grab: die Stille.
    Aber auch nach dem Tod seines Vaters hatte Martti dessen Nase. Das war ihm immer seltsam, fast unbegreiflich erschienen. In diesen Kindheitsmonaten begann er mit dem Zeichnen. Im Februar ging ein Bombenhagel über Helsinki nieder, seine Mutter lag willenlos im Schlafzimmer, brachte sich nicht in Sicherheit. Er selbst kroch unter den Küchentisch, weinte und schrie nach seinem Vater. Als die Angriffe vorüber waren, bekam er Alpträume. Das Dienstmädchen – es hieß Irja – kaufte ihm auf dem Schwarzmarkt Kohlestifte und Papier und sagte: »Mal deine Träume auf, vielleicht hilft das.«
    Der freundliche Familienvater nahm jetzt auch seine Frau bei der Hand. Der ältere Sohn drückte eine Spiderman-Figur an seine Brust, der kleinere umklammerte die gleiche Figur mit dicklichen Patschehändchen. Das Mädchen von der Haltestelle setzte ein gelangweiltes Gesicht auf. Martti sah, wie sie kurz zu dem schüchternen Jungen rübersah. Dieser wandte den Blick ab; vielleicht um seine Verliebtheit zu verbergen.
    Er konnte dem Gefühl nichts entgegensetzen: Alle Bemühungen des Menschen, die unauslöschliche Hoffnung, der beharrliche Glaube an die Bedeutsamkeit eines strahlend hellen Mainachmittags, der Eifer, mit dem die Gratiszeitung hergestellt wurde, die täglich in den öffentlichen Verkehrsmitteln auslag – all das erweckte in ihm übersprudelnde Zärtlichkeitsgefühle. Dies war die Welt, in all ihrer Kuriosität und Nichtigkeit. Kein Gemälde, sondern die Welt, pur und bloß, und noch immer vor ihm ausgebreitet.
    Das Krankenhaus war ihm vertraut, erinnerte ihn an einen Organismus. Er durchschritt die Flure, ging durch geräuschlose Automatiktüren, meldete sich für die Untersuchung an. Hier wurde man reduziert auf Lunge, Herz, Leber, Kreislauf und Psyche. Er setzte sich ins Wartezimmer. Auch die anderen Wartenden hatten ihr sonstiges Dasein draußen gelassen, wirkten wie abgespalten von sich selbst: die junge Frau mit dem aufgedrehten, fiebrigen Kind auf dem Schoß, die kahle Frau um die vierzig, der Mann in seinem Alter, wahrscheinlich mit denselben Sorgen. Schnell skizzierte er im Kopf die Haltungen der Menschen, eine alte Gewohnheit.
    Eine Krankenschwester gab ihm Bescheid, dass es noch etwa eine Stunde dauern würde, bis er drankam. »Gehen Sie ruhig nochmal ins Café einen Stock tiefer.«
    Er stand auf, wanderte wieder durch die Flure. Er sah ein paar Schwerkranke, eine Frau am Tropf, ihre blauen Adern schimmerten durch die bleiche Haut. Der Anblick belastete ihn nicht, obwohl er an Elsa denken musste, an das, was kommen würde. Er hatte kurz Blickkontakt mit der Kranken, nickte ihr zu. In ihren Augen lag noch Hoffnung.
    Der Mensch ist bereit, schlimme Qualen durchzustehen, nur um ganz gewöhnliche Tage erleben zu dürfen. Und wenn es keine hundert mehr sind. Oder keine zehn. Selbst wenn es nur ein einziger ist, wenn einem mehr nicht

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