Wahr
anzupassen. Er umarmt mich, wir stehen still im Flur. Er streichelt meinen Po, fügsam lege ich meine Nase in die Mulde an seinem Hals.
Wir verfügen bereits über die komplexen Streit- und Versöhnungsrituale von Mann und Frau. Während er mich hält und wir gemeinsam unseren Trost erschaffen, bemerkt er, dass unsere Rituale denen von Elsa und ihm verblüffend ähnlich sind. In beiden Konstellationen hat er dieselbe Rolle: Zu Beginn ist er grausam, am Ende liebevoll.
Aber Elsa ist zänkischer als ich. Ihr Spott ist komplexer, ihre Scharfsichtigkeit verletzender. Sie kennt seine empfindlichen Stellen besser und nutzt dieses Wissen ohne Skrupel.
Doch auch wir werden versierter.
Wenn wir streiten, sehe ich seine Schwächen glasklar. Der Hass, der sich in mir später zu einem schmerzenden Knoten verdichtet und mich dazu bringt, mir einen Vorrat an Demütigungen für ihn auszudenken, hat seinen Anfang in diesen Versöhnungsritualen, die in den ersten Jahren noch damit enden, dass sich die Grenze zwischen seiner und meiner Haut auflöst. Aber seine Kleinlichkeit habe ich schon jetzt entdeckt. Ich merke mir alle psychischen und körperlichen Mängel und koste ihre Vielfalt aus.
Später schleicht sich das Mädchen zu mir. Ich sitze am Küchentisch, der Streit ist schon Stunden her, aber es erinnert sich genau an ihn.
»Gehst du weg? Auf die Treppe?«
»Nein, mein Schatz, ich bleibe hier.«
»Darf ich auf deinen Schoß?«
Ella sieht mich bittend an, und in diesem Moment keimt in ihr das Gefühl auf, das später so bestimmend für sie sein wird. Mit der Zeit, nachdem Jahrzehnte vergangen sind, lassen diese Szenen aus dem Schattentheater ihrer Kindheit sie zur Helferin werden, die ihre Unsicherheit hinter Strukturiertheit und Man-sollte-Sätzen verbirgt; ihrem Ehemann kann sie Nähebedürfnisse nur durch Erkrankung anzeigen. Wenn ihr Chef sie bei der Arbeit zurechtweist, bekommt sie Fieber. Wenn ihre Töchter ihr anmaßende Vorwürfe machen, so wie Töchter es nun mal tun, kriegt sie Migräne. Dann liegt sie im abgedunkelten Zimmer, und jeder noch so kleine Lichtspalt zwischen den Gardinen verursacht ihr Übelkeit.
Jedes Mal, wenn sie krank ist, staunt sie über die geduldige und unmittelbare Zärtlichkeit ihres Mannes. Er öffnet leise die Schlafzimmertür und fragt, was ihr jetzt guttäte. Allein schon die Frage bringt sie zum Weinen. Eigentlich weint sie darüber, dass sie ein so unbegreifliches Glück hatte, diesen Mann zu finden, der sich mit einer Apfelsine über die Schwerkraft hinweggesetzt hat.
Bring mir Wasser. Streichel mich. Bitten, über die sie sich als Erwachsene nie hinauswagen wird. Und ihr Mann bringt ihr Wasser und setzt sich an ihr Bett, streichelt ihren Rücken mit gleichmäßigen Bewegungen. War was mit den Mädchen? Er fragt behutsam. Hattet ihr Streit oder so etwas?
»Mmmh«, brummt sie. Er kennt sie. Ihre Migräne, so echt sie ist, ist die kunstvolle, körperlich gewordene Verkleidung einer Bitte. Wie glücklich sie ist, diesen Mann zu haben, der sie liebt, Tag für Tag, auch nachts, an müden Sonntagnachmittagen und angespannten Dienstagabenden. Jahr für Jahr schält ihr Ehemann geduldig das Kind in ihr hervor, das dreijährig mit seiner Puppe an der Küchentür stand und auf den Schoß wollte.
Aber bis dahin ist es noch weit, eine Etappe von Jahrzehnten. Noch ist das Mädchen diese Dreijährige. Ihre Bitte ist rein, und ich beantworte sie, schließe sie ohne Zögern in die Arme.
Abends legt der Mann seine Arme um mich. Es gelingt mir wieder zu glauben, dass es immer so gewesen ist. Aber der Streit bleibt als feiner bedrückender Riss zwischen uns, den der Mann mit Worten und Berührungen zu kitten versucht. Irgendwann macht er sich von mir los, seufzt, tritt ans Fenster. Er steckt sich eine Zigarette an, öffnet das Fenster, setzt sich aufs Fensterbrett. Ich zeige mich nachgiebig und richte mich im Bett auf, lehne den Kopf an die Wand.
»Du solltest dich nicht auf das hier einlassen«, sagt er plötzlich. »Du solltest mit ihm gehen, wer auch immer er ist.«
»Warum sagst du so was? Das will ich doch gar nicht.«
Zum ersten Mal sehe ich einen Schmerz in seinem Gesicht, den ich später noch besser kennenlernen werde.
»Es wird nicht gut ausgehen. Darum.«
»Sag das nicht.«
»Du solltest jemand anderen lieben.«
»Sag das nie wieder. Sag mir nie wieder, dass ich jemand anderen lieben sollte.«
15.
UNTER DER PRACHT der Apfelblüte erwarteten sie das Eintreffen der Gäste.
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