Wahr
Ihre Mutter wollte das letzte Fest für ihre Freunde geben. Da es in der Sammonkatu zu sehr nach Krankheit roch, war das Fest in ihren Garten verlegt worden. Ihre Mutter nannte noch einen weiteren Grund: Wo konnte man besser Abschied feiern als unter Apfelblüten!
Ihre Eltern waren vor den Gästen gekommen; ihre Mutter hatte ein letztes Mal ihre Finger in Gartenerde stecken und eine Zaunwinde pflanzen wollen. Noch schauten die Triebe erschrocken aus der Erde ins Licht, saugten sich unter dem Fenster zögerlich mit Feuchtigkeit voll. Schon morgen würden sie in Saft und Kraft stehen, und ein paar Wochen später, wenn die Apfelblüten abgefallen waren, würden sie bis ans Fensterbrett reichen.
Sie war mit ihrer Mutter allein in der Küche, vor ihnen stand die große Salatschüssel. Ihre Mutter hatte ihre Halbschuhe gegen hellrote Pumps eingetauscht, zupfte einen Salatkopf klein und sah zufrieden aus.
»Frauen brauchen zum Leben zwei Dinge: Humor und hochhackige rote Schuhe«, sagte sie. »Eine Doktorarbeit ist auch nicht schlecht, aber nicht unbedingt nötig.«
Ihr Vater und Eero bauten draußen den Grill auf, die Mädchen mähten den Rasen. Die Tür stand auf, bewegte sich im Wind. Eleonoora fühlte sich gut. In diesem einen Moment brauchte sie sich um nichts zu sorgen.
»Ist das dein endgültiges Urteil?«, fragte sie ihre Mutter und lachte.
»Jawohl! Notier es dir und sorg dafür, dass es in der Grabrede vorkommt.«
»Na, mit so was werden wir uns jetzt wohl kaum befassen.«
»Wieso nicht? Ich stelle mir was richtig Knackiges vor: Elsa Ahlqvist, birnenförmig – die letzten Monate nicht mitgezählt, akzeptable Brüste bis ins Grab. Mutter, Großmutter und Emerita mit untrüglichem Gespür für die richtigen Schuhe. Lebte ohne Angst, starb glücklich, ließ keine einzige Portion Eis aus.« Ihre Mutter lachte schallend.
»Ein bisschen weniger Grabes-Ironie, bitte.«
»Ironie steht mir gut! Dessen bin ich mir inzwischen absolut sicher. Die Leute wollen immer, dass ich über die Gnade der Liebe rede, aber ich habe festgestellt, dass das Thema Gnade bei alten Männern mit Vollbart viel besser aufgehoben ist.«
Ihre Mutter wusch die Kirschtomaten und halbierte sie. Maria kam herein, schnappte sich ein Stück Mozzarella und umarmte ihre Großmutter. Die gab Maria einen Schmatzer auf die Wange und wartete, bis ihre Enkelin wieder draußen war, ehe sie weitersprach: »Ich werde die Zaunwinde wohl nicht mehr wachsen sehen.«
Eleonoora schob ihre Trauer mit einem Seufzer beiseite. Irgendwann später würden sie von ihrer Mutter sprechen und auf dieselbe Weise seufzen. Wenn sie nächstes Jahr um diese Zeit unter den Apfelbäumen sitzen und wieder diesen Salat essen würden, dann würden sie sagen: Ach, wie hätte sie diesen Tag genossen.
»Vielleicht nicht. Aber wenn du nächste Woche noch mal kommst, haben die Triebe schon Wurzeln gebildet. Das ist schließlich auch Wachstum.«
»Ihr könntet mich unter der Zaunwinde begraben.«
»Mama. Du kommst doch nicht ins Blumenbeet!«
»Ich glaube, ich wäre da sehr glücklich«, sagte ihre Mutter leichthin und holte Alufolie aus der Schublade.
Sie faltete kleine Pakete für den Grill, in jedes ka men eine Tomate, ein Stück Mozzarella, Basilikum un d Öl.
Eleonoora half mit. »Das macht Spaß«, sagte sie. »Erinnert mich an unsere Spiele früher, als ich noch klein war. Weißt du noch? Wir konnten stundenlang mit einem Handschuh spielen, mit deinem Lederhandschuh. Du hattest doch diese roten. Und mein Fäustling war eine Muschel. Du warst der nichtsahnende Fisch, der sich in der Muschel verfangen hat.«
»So ging das?«
»Ja. Wohin verschwinden diese Spiele eigentlich?«
»Das ist der Lauf der Dinge. Man vergisst sie, aber dafür tritt anderes an ihre Stelle.«
»Vielleicht verschwinden sie, wenn die Kindheit endet«, sagte Eleonoora und bekam auf einmal eine gewaltige Sehnsucht nach dieser Zeit.
Sie wollte nicht mehr fünf sein. Sie wollte nicht mehr Kind sein. Aber sie wollte, dass ihre Mutter noch war wie damals und sie zum Spielen anstiftete, sich verrückte Geschichten ausdachte von den Hütten der vier Winde und Prinzessinnen und Prinzen, Hexen und Zauberern. Sie wollte, dass ihre Mutter mit ihr wieder durch dunkle Waldstücke streifte und flüsterte: »Ein Gespenst!«, und sie würden panisch losrennen und erschrocken und glücklich über nasse Zweige springen. Sie wollte eine junge Mutter, leichtsinnig wie ein Mädchen, das all die Jahre noch
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