Wahr
vor sich hatte. Und hinter ihnen ging ihr Vater, die Hände in den Taschen, rief ihnen gut gelaunte Mahnungen nach, obwohl er seine Mädchen nur zu gern losrennen sah und ihre fröhlichen Schreie genoss.
Ihre Mutter öffnete eins der fertigen Pakete wieder. »Ich habe nachgedacht«, sagte sie.
»So?«
Ihre Mutter sah durchs Fenster zu ihrem Vater, der mit Eero am Grill stand und offenbar testete, ob die optimale Wärme schon erreicht war. »Ich habe Fehler gemacht.«
»Wovon redest du? Was für Fehler?«
Ihre Mutter seufzte, suchte nach der richtigen Form für ihre Worte. »Ich weiß nicht. Ich habe das Gefühl, dir nicht alles erzählt zu haben. Ja, so ein Gefühl habe ich.«
»Was willst du mir denn erzählen?«
Ihre Mutter hob die Schultern. Ihre Hände bewegten sich weiter, befüllten Alufolie für den Grill. Auf einmal kippte sie den Inhalt eines Paketes zurück auf den Teller. »Manchmal überlege ich, ob ich als Mutter gut genug war. Aber ich konnte nicht anders. Ich konnte nicht mütterlicher sein und zu Hause bleiben.«
»Wie hättest du sonst sein sollen?«, hörte Eleonoora sich verdutzt fragen. »Ich habe doch nie gesagt, dass du zu Hause bleiben sollst.«
»Du bist trotzdem gut zurechtgekommen, oder? Bist ein gutes Mädchen geworden.«
»Gut zurechtgekommen, was meinst du damit?«
Ihre Mutter schwieg, sah sie aber an, als wollte sie noch etwas sagen.
»Was ist?«, fragte Eleonoora.
Das Brummen des Rasenmähers legte sich über die Stimmen von ihrem Vater und Eero. Ihre Mutter wandte den Blick ab. »Bei deiner Geburt ist meine Gebärmutter gerissen. Nicht ganz durch, aber fast. Jedenfalls so, dass ich kein zweites Kind bekommen konnte.« Sie sprach schnell, atemlos.
»Das wusste ich nicht«, sagte Eleonoora.
»Ich habe getrauert, indem ich weit weggegangen bin, mir Arbeit aufgeladen habe, mich in alle möglichen Projekte gestürzt habe.« Ihre Mutter sah sie an.
»Du warst eine gute Mutter«, erwiderte sie. »Ich hätte mir keine andere wünschen können.« Auf einmal schien es ihr sehr wichtig, das auszusprechen.
»Danke«, sagte ihre Mutter und wandte ihr Gesicht der Nachmittagssonne zu, die durch das Fenster schien. Sie schloss die Augen und sah glücklich und zugleich zerbrechlich aus. Wie aus Pergamentpapier, dachte Eleonoora. »Ich liebe diesen Moment, wenn das Flugzeug abhebt, weißt du«, sagte ihre Mutter auf einmal. »Wenn man durch die Wolken bricht und einem die Sonne ins Gesicht scheint. Kaum war ich zu Hause, habe ich mich wieder danach gesehnt. Ich hätte das nie zugegeben, aber ohne diesen Moment wäre ich eingegangen. Ich sehnte mich nach der Beschleunigung auf dem Rollfeld und dem Lächeln der Stewardessen, den Gesprächen mit fremden Menschen neben mir. Vielleicht war genau das meine Schwäche.«
»Warum um Himmels willen soll so etwas eine Schwäche sein? Du hast es geliebt zu fliegen!«
Ihre Mutter wirkte leicht gequält. »Ich wollte in Bewegung sein, immerzu. Vielleicht wollte ich ja gar nicht die Welt verbessern, Kindern helfen und meinen Teil zur Wissenschaft beitragen. Vielleicht wollte ich nur die Aufregung des Abhebens, den Aufbruch? Immer wieder neu. Das war wohl der Grund für meine Reisen.«
Die Frage klang erregt, bittend: »Und wenn es wirklich so war?« Eleonoora spürte Unruhe in ihren Mundwinkeln zucken. Der Rasenmäher war verstummt, die Mädchen hatten sich zu ihrem Vater und Eero gesellt. »Was wäre so schlimm daran? Was ist schlimm daran, wenn du die Beschleunigung genossen hast?«
»Aber wenn es das Einzige war, was ich wirklich genossen habe? Wenn ich gar nicht so edel war und die Welt verbessern wollte? Sondern nur Zerstreuung gesucht habe? Ich war unruhig und gelangweilt und konnte einfach nicht innehalten. Was ist, wenn mir meine eigene Familie Angst gemacht hat, die Unbeweglichkeit, die Wiederholung des ewig Gleichen? Der Schneematsch an dunklen Novemberabenden! Und immer dieselben Gesichter. Also bin ich gegangen und habe anderen Familien geholfen. Damit ich meiner eigenen nicht begegnen musste.«
»Wovon redest du? Du hast eine bedeutsame Karriere hingelegt! Du hast keine Angst vor deiner Familie gehabt. Sobald du da warst, warst du da.«
»Hm. Ja, das war ich.«
Eleonoora wollte noch mehr sagen. Ihre Mutter sollte sich ganz sicher sein. Sie brauchte eine abschließende Perspektive auf sich selbst, eine tiefe Definition. »So machen glückliche Menschen das«, sagte Eleonoora. »Glückliche Menschen fühlen sich gut, erleben
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