Wahr
Dann sagt sie, ein wenig verwundert: »Sie ist mit sechsundzwanzig gestorben.«
»Ja.«
»Manchmal sterben Leute so jung. Unfälle, unerwartete Krankheiten, die einem nur noch eine Woche Zeit geben.«
»Ja«, sagt Anna. »Das kommt alles vor.« Sie schweigt. Ihr wird klar, dass die Art, mit der Menschen im Rahmen ihrer Arbeit Mitleid ausdrücken, standardisiert ist.
Doch dann überrascht die Frau sie, indem sie mit einem Seufzen sagt: »Ich habe immer gedacht, wenn ich jung sterbe, bei einem Autounfall, vielleicht auf einer sommerlichen Straße zwischen grünen Feldern, dass es dann ein glücklicher Tod wäre. Vielleicht ist sie ja so gestorben.«
»Ja, vielleicht.«
Die Frau liest die letzten drei Adressen vor, Anna notiert sie sich. Sie dankt und wünscht noch einen guten Tag, ist bereit aufzulegen. Jetzt sagt die Frau es, leicht bemüht, als spräche sie eine Fremdsprache: »Es tut mir leid.«
Die Frau ist jung, das wird Anna erst in diesem Moment klar. Vielleicht kaum älter als sie selbst. Beileidsworte sind Fremdworte für die, die ihre Jugend leben, und es tut weh, sie zu benutzen. Junge Menschen denken: Das geht mich nichts an, wird mich nie betreffen.
Sie legt auf und lauscht der Stille. Betrachtet die Gra tiszeitung, darin die Werbung einer Zahnarztpraxis. Auf dem gelben Einkaufszettel, den Matias gestern geschrieben hat, ist Kaffeesahne doppelt unterstrichen. Es ärgert ihn, wenn morgens beim Frühstück die Kaffeesahne fehlt.
Anna steht im Flur. Alle Kraft scheint aus ihr herauszurinnen. Der Tintenfleck, der schon am Verbleichen war, wächst wieder. Schwarze Farbe fließt aus ihr heraus, und sie selbst versickert im Spalt zwischen den Dielen.
Ohne die Folgen zu überdenken, drückt sie auf Wahlwiederholung. Ein Mann antwortet. Anna ist enttäuscht, dass sie ihre Frage nicht an die Frau von eben richten kann. »Es geht um Eeva Ellen Ronkainen, geboren in Kuhmo 1942, gestorben ebenfalls in Kuhmo 1968. Können Sie mir anhand dieser Daten sagen, ob sie Geschwister hatte?«
1966
Helle, unendliche Tage. Ende Juni und Anfang Juli ist Elsa insgesamt drei Wochen fort, und wir schlagen unser Zuhause auf dem Land auf. Jeden Morgen überprüfen wir die Fischreuse, ich ziehe seine Gummistiefel an und rudere. Er sitzt mit dem Mädchen im Heck, sie denken sich Geschichten aus, lachen.
Einmal ziehe ich einen Hecht aus der Reuse, er zappelt, aber entwischt mir nicht. Er richtet dem Mädchen Grüße aus der Tiefe aus, es lacht über die Sätze, die ich mir ausdenke.
»Ist es kalt ganz unten im See?«, fragt Ella kichernd.
»Und wie«, antworte ich mit Fisch-Stimme. »Es ist eiskalt und friedlich und nichts verändert sich.«
Manchmal malt er mich beim Rudern oder skizziert andere Dinge. Aber meist überlässt er die Tage und Hechte und den See sich selbst. Die Sonne geht auf und unter, die Welt ist an ihrem Platz. Das Eichenlaub wird Tag für Tag dichter. Die Amsel ist schon verstummt, der Zilpzalp zwitschert noch. Ab und zu fährt einer seiner Freunde ungeladen mit dem Auto vor, doch das macht uns nichts. Manche haben eine Flasche Schnaps dabei, wollen eine Sause veranstalten. Manchmal kommen ganze Familien. Bei Alkohol, mitgebrachten Pralinen und krausen Sätzen bleiben wir bis lange in die Nacht wach, oft schläft das Mädchen auf meinem Schoß ein.
Wir beginnen unsere Sätze mit gewichtigen Worten. Aber die Welt, sagt jemand. Diese Welt, sagt jemand anderes. Diese Zeit, präzisiert ein Dritter, und schon geht es um den Menschen und den Sinn. Keiner gibt es zu, aber eigentlich interessieren sich alle viel mehr für den See, die Sauna und das halbe Stück Blaubeerkuchen als dafür, dass in diesem Augenblick in Büros, Konferenzen und an Rednerpulten die Wirklichkeit erschaffen wird, womöglich sogar im Geheimen, bei Versammlungen von Gruppen, für die die Namen erst erfunden werden müssen.
Kerttu ist bei diesen Versammlungen dabei, sie gibt nichts auf Blaubeerkuchen. Sie isst ihn, wenn er zufällig vor ihr auf dem Tisch steht, aber verschwendet keinen einzigen Gedanken an ihn. Der Polartaucher ist für sie nichts als ein Wort aus vergangenen Tagen.
Doch es gibt uns, die wir zufrieden sind mit unseren Satzanfängen im Schatten der Eichen, während der Polartaucher mit seinem Schrei die Seeoberfläche aufraut.
»Aber die Welt«, sagt jemand.
Er sieht mich an, das Mädchen schläft mit Molla auf meinem Schoß, und niemand braucht es auszusprechen: Das hier ist die Welt. Irgendwo anders wird auch in
Weitere Kostenlose Bücher