Wahr
diesem Moment ein Urwald mit Napalm überschüttet, viele sind deshalb außer sich. Auch wir, wenn wir nur unseren Blaubeerkuchen behalten dürfen. In Paris herrscht bereits allgemeiner Aufruhr, die Leute suchen nach einer passenden Form, die erregte Energie zu bündeln.
Gleichzeitig – parallel zum Aufruhr, dem Flammenmeer, dem Entsetzen, der Solidarität und dem endlosen Vortrag von Gedichten – wird ein kurzhaariges dünnes Mädchen mit langen Beinen in ein gelbes Minikleid gesteckt. Seine Augen sind riesig, werden sogar noch größer geschminkt. Ich sehe die Fotos von dieser Frau mit den angeklebten Wimpern im Herbst in der Zeitschrift Silberspiegel und überlege erstaunt, wann wohl dieser fragende Gesichtsausdruck modern geworden ist. Das kann nicht viele Wochen her sein, die neue Mode vollzieht sich genau jetzt. Aber wir kümmern uns nicht weiter darum, denn wir haben die Kiefern und Tannen und Eichen, den Blaubeerkuchen, die Satzanfänge. Sie sind alles, was wir brauchen.
Einer unserer Sommergäste schenkt sich Wein nach und sagt: »Wir müssen alles aus dem Blickwinkel der Hoffnung betrachten. Etwa so, wie Martin Luther King es gesagt hat. Und dann müssen wir aktiv werden.«
»Nein, nicht King – Kant!«, korrigiert jemand. »Wir sollten Kant hervorholen und fragen, was wir wirklich hoffen dürfen. Erst dann können wir fragen, was wir tun müssen.«
Alle nicken. Kant ist akzeptiert. Trotzdem ruhen die Blicke auf dem Rest Blaubeerkuchen und einer dummen Biene, die versucht, sich einen Krümel zu sichern.
Dienstags und freitags gehe ich mit dem Mädchen zum Kaufmannswagen; in staubigen Schuhen laufen wir bis an die Kreuzung. Molla ist auch dabei. Ella zeigt der Puppe die Wiesen und die Kühe, die blitzenden Weidenröschen, deren intensives Pink fast in den Augen schmerzt. Ihre Haut ist von Mücken zerstochen und gebräunt, ihre flinken Beinchen ruhen nie.
Kekse, fordert sie. Dominos oder Zucker-Zimt, frage ich, und wir überlegen, welche Sorte mit frischer Milch am besten schmeckt. Wir versuchen zu erraten, wer am Steuer sitzt, die rundliche Kaufmannsfrau, die Ella oft ein Eis schenkt und Molla einen Bonbon, oder der Sohn, der von Geschenken nichts hält. Den Bonbon isst Molla immer, wenn wir die Augen schließen, denn Puppen essen nur, wenn niemand zusieht.
Wir kaufen Kekse, Knäckebrot und Cornflakes, weil das Mädchen beschlossen hat, Cornflakes zu mögen. Außerdem Limonade und Dosenfleisch, für den Fall, dass in der Reuse nichts als Elritzen sind. Reis und Orangensaft. Kartoffeln brauchen wir nicht zu kaufen, die holen wir aus dem Beet, genauso die Erbsen. Auch Salat wächst direkt vor unserer Tür. Milch besorgen wir auf dem Rückweg bei Ekman, einen Kilometer von der Kreuzung entfernt.
Das Mädchen will die Kühe beobachten. Es steht ruhig und ernst vor Kaisla, probiert ein paar Befehle aus. Das große Euter begutachtet es ein wenig verschüchtert. Mir wird deutlich, dass ich einen vollkommen anderen Hintergrund habe. Ich werde das Mädchen nie einholen können. Es wächst in einer Welt auf, in der Milch in Flaschen, Tüten oder Pappkartons geliefert wird.
Und so wird es sein: Später ist sie eine Frau, die mittags Salat mit Ziegenkäse und abends Ciabatta mit Mozzarella isst. Ich dagegen stecke für immer in der Welt von ausgelassenem Speck und brauner Soße fest.
Der Sommer hält inne, der Himmel steht, das Gras wächst lautlos, die Erdbeeren sind schwer von Licht und Regen und sinken täglich näher zur Erde. Das Mädchen pflückt jeden Morgen welche, mit einem Plopp fallen sie in die Emaille-Tasse, wie glückliche blinde Raupen.
»Sollen wir die auf einen Halm fädeln und eine Kette basteln?«, frage ich.
»Geht das?«, fragt Ella.
Ich fädele eine Erdbeerkette für sie auf und eine für Molla. Sie trägt ihre, bis die Erdbeeren wässrig werden, hinterlässt Flecke an der Gardine. Eine rote Perle rutscht zwischen ihre Schulterblätter; jemand von den Gästen sagt: »Liebes Kind, du siehst aus wie erstochen!«
»Eeva hat mich erstochen«, sagt das Mädchen, zufrieden über seinen Schmuck.
»Unsinn!«, wehre ich ab.
»Eeva hat mich mit ihrem Unsinn erstochen«, sagt Ella, und ich drohe, ihren Mund mit Seife auszuwaschen, so wie meine Mutter früher. Aber dabei lache ich ihr zu, und sie tritt kichernd die Flucht an.
Der Mann arbeitet gemächlich vor sich hin. Er bereitet eine neue Arbeit vor, macht aber keine Fortschritte. Einer seiner Freunde bringt ihm Leinwand, die er in
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